Im Bann des Fluchträgers
ihrer Mannschaft um. »Wir tauchen!«, befahl sie.
Den Nachmittag über verbrachten Ravin und Darian damit, zu beobachten, wie Sumals Leute in das Meer sprangen, gegen die Strömung gesichert mit dünnen Seilen aus festen Algenfasern, die im Wasser nicht aufquollen, und wie sie mit Netzen voller roter Korallenäste wieder an die Oberfläche kamen. Über den Augen trugen sie transparente Schalen aus geschliffenem Kristall, die sie mit dünnen Lederbändern am Kopf befestigt hatten. Ravin fand, dass sie aussahen wie Insekten mit Flügeln aus schlaffen Netzen, die auf ihrem Rücken angebracht waren. Netz um Netz schichteten sie die kostbare Fracht auf dem Boden auf. Ein weiterer Seemann prüfte jede Koralle genau, säuberte sie, zerkleinerte große Stücke mit einem kantigen Stein. Die Frau, die Xia hieß und immer schwieg, nahm die Korallenstücke, zerstampfte sie zu Pulver und rührte sie mit einer Paste aus Fett an.
»Für den Fall, dass einer unserer Taucher gebrannt wird«, sagte Sumal. Das Schiff bewegte sich währenddessen langsam voran und zog die Taucher an ihren Seilen durch den Korallenwald. Die roten Äste leuchteten wie Blutfäden im Wasser. Der Anblick faszinierte Ravin so sehr, dass er Chaltar erst bemerkte, als er ihn mit nasser, salzkalter Hand an der Schulter berührte und ihm das Lederband mit den geschliffenen Scheiben hinhielt.
»Da«, sagte er zu Ravin und deutete auf das Wasser. Ravin schüttelte den Kopf und lächelte verlegen.
»Nein«, wehrte er ab. »Nein danke, ich … habe das noch nie …« Hilfe suchend blickte er sich nach Sumal und Darian um, doch die waren ein Stück an der Reling entlanggewandert und blickten völlig vertieft in das Wasser. Immer noch hielt Chaltar ihm das Lederband hin. Ravin nahm es zögernd, was Chaltar, seinem breiten Grinsen nach zu urteilen, als Einverständnis deutete, denn er griff hinter sich und zückte ein Seil, das er Ravin um die Hüfte band. Ravin spürte, wie ihm trotz der Sommerhitze ein eisiger Schreckschauder über die Kopfhaut fuhr.
»Aber ich kann nicht ins Wasser«, sagte er noch einmal. Chaltar machte eine beruhigende Geste und griff sich an sein Hüftseil. Ravin verstand. Er wollte mit ihm gemeinsam tauchen. Mit klopfendem Herzen betrachtete er die beiden Kristallschalen. Xia hörte auf, die Korallen zu Pulver zu zerstoßen, und sah neugierig zu. Probehalber hob Ravin die Schalen an die Augen und blickte auf das Meer. Wie groß es ihm erschien! Alles war schärfer und klarer, vielleicht sogar farbiger. Chaltar lachte und war so schnell hinter ihm, dass Ravin gar nicht dazu kam, die Scheiben wieder abzunehmen – schon hatte Chaltar ihm das Lederband fest um den Kopf gezurrt und zog ihn zur Reling. Wie in einem Traum hörte er noch einen erstaunten Ausruf von Darian, dann schien es ihm so, als beobachtete ein zweiter Ravin, wie er sich hinter Chaltar am Seil entlang in das lauwarme Meer gleiten ließ. Das Wasser durchdrang sein Tuch und umfing seinen Körper. Nur an seine Augen kam es nicht. Die Kristallschalen pressten sich so dicht an seine Haut, dass er einen Moment der Verblüffung brauchte um sich bewusst zu werden, wie gut seine Augen geschützt waren. Dennoch hielt er sie fest geschlossen. Mach die Augen auf, jetzt!, befahl er sich.
Der Anblick traf ihn mit solcher Überraschung, dass er unter Wasser einen erstaunten Ruf ausstieß. Die magische Landschaft verschwand hinter einem Schwall von Luftblasen und tauchte umso schöner wieder daraus hervor. Die Korallen streckten sich ihm entgegen wie lange rote Finger. Unglaublich groß erschienen sie ihm. Und als zufällig seine eigene Hand in sein Blickfeld geriet, erschrak er darüber, wie groß auch sie aussah. Neben ihm tauchte Chaltar auf, ebenfalls
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