Im Bann des Fluchträgers
Ravin und Darian standen Schulter an Schulter an Deck und blickten auf Dantar zurück. Vom Schiff aus betrachtet wirkte die Stadt schutzlos wie ein Tier, das auf dem äußersten Rand eines Felsens kauerte, den Abgrund unmittelbar vor sich. Vor den niedrigen Häusern, die schemenhaft aus dem Dunkel hervortraten, wirkten Diolens Kriegsschiffe noch größer und bedrohlicher als vom Hafen aus. Neben ihren gewaltigen Rümpfen nahm sich die Jontar aus wie ein harmloses Köderfischchen neben einem hungrigen Snai. Sumal Baji stand am Steuer, doch ihr Blick folgte nicht dem Weg, den die Jontar nahm, sondern schweifte hinaus aufs Meer zu den Snaifischern. Sumal sah ihnen zu und lächelte.
S
chon vor Sonnenaufgang gab es viel zu lernen. Einer von Sumals Mannschaft – Ravin wusste inzwischen, dass es Chaltar war – zeigte ihnen, wo die Taue und Haken verstaut lagen und wie sie die Tauenden um die Ringe an der Reling knoten konnten. Nach einigen anstrengenden Stunden beherrschten sie mehrere Seemannsknoten, konnten leidlich mit dem Seitenruder umgehen und wussten, wie man bei Sturm so schnell wie möglich die Segel reffte.
Einzig Mel Amie weigerte sich an Deck zu kommen. So gut es ging, hatte sie den Behelfsstall ausgestattet und mit alten Leinensäcken gepolstert, sodass die Pferde sich auch bei hohem Wellengang nicht verletzen würden. Ganz besonders kümmerte sie sich um das Horjun-Pferd, das schon einige Male wild ausgeschlagen hatte, als es hörte, wie die Wellen gegen den Schiffsrumpf leckten. Das Banty stand mit gespitzten Ohren in seiner Box und starrte gebannt auf das Muster der Harzpaste, die sich durch die Zwischenräume der Planken gedrückt hatte. Ravin fragte sich, wie lange es dauern würde, bis das kleine Pferd nicht mehr von der fleckigen, harzverschmierten Wand zu unterscheiden war. Nur die Regenbogenpferde waren ungerührt. Entspannt, mit aufgestützten Hinterhufen, standen sie dösend nebeneinander, als wäre der stetige Wellenschlag ein Schlaflied, an das sie schon ihr ganzes Leben lang gewöhnt waren.
Die Jontar glitt über das Meer, schneller und glatter, als sie es sich beim Anblick des bauchigen Schiffes vorgestellt hatten. Zwei aus Sumals Mannschaft lenkten mit geschickter Hand die Segel. Mit dem Wind im Rücken segelten sie an der zerklüfteten Küste entlang. Ab und zu gerieten sie an den Rand einer Strömung, die die Jontar gefährlich nahe an eine Klippe zog. Doch nach den ersten Schrecksekunden erkannte Ravin, wie geschickt der Steuermann mit einem Gegenruder das Schiff aus dem Sog manövrierte und wieder auf Kurs brachte. In den ersten zwei Tagen verursachte ihm das sanfte Schlingern und Stampfen des Schiffes leichte Übelkeit. Er fragte sich, wie Mel Amie es in dem stickigen Schiffsrumpf aushielt. Er fühlte sich nur wohl, solange er an Deck war, die Sonne im Blick, die Klippen, die als endlose steinerne Kette an ihm vorbeizogen, ständig an der Breitseite des Schiffes, bis es ihm so vorkam, als würde die Jontar stillstehen und die Klippen an ihnen vorbeiwandern. Auf dem Deck des Schiffes zu schlafen fühlte sich seltsam an. Sie lagen auf Decken, das Ohr wie Lauscher am Boden. Durch den schaukelnden Boden glaubte Ravin mit seinem ganzen Körper das Flüstern von gewaltigen Meernaj zu hören und, ganz weit unten, den schlingernden Herzschlag der See. In der Nacht stattete ihm ein zitternder Traumfalter einen flüchtigen Besuch ab, brachte jedoch nur verschwommene Bilder, die eher der Vergangenheit als der Gegenwart entsprungen zu sein schienen.
Der Tagesrhythmus der Seeleute richtete sich ganz nach dem Meer. Das Meer war Inhalt ihrer Gespräche, auf das Meer achteten sie alle wie ein Hirte auf seine unberechenbare Herde, die ihm in
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