Im Bann des Fluchträgers
jedem Augenblick davongaloppieren oder ihn überrennen konnte. Selbst wenn sie sich unterhielten oder ruhten, waren sie stets auf der Hut. Diese Wachsamkeit, die Strömungen, Strudel, der Wellengang schienen ihnen im Blut zu liegen. Das Meer war Straße, Vorratskammer, Freund – und Feind.
Auch Sumal Baji hatte sich verändert. So wie sie nun neben dem Steuermann stand und sich mit ihm in fließendem Küstendialekt unterhielt, Befehle gab und ihre Augen über den Ozean schweifen ließ, war sie wieder Sumal Baji, die Kapitänin. Und Ravin und seine Freunde stellten keine Fragen, auch wenn ihre Anweisungen auf den ersten Blick unlogisch erschienen. Über Tag warfen zwei der Seeleute eine lange Schleppangel ins Meer. Gegen Abend zogen sie sie hoch und sie war schwer von Fischen. Sobald die Sonne unterging, entzündeten die Seeleute ein Herdfeuer in einem kleinen Ofen aus Stein und brieten die Fische. In den ersten Tagen schlief Ravin noch bei Nacht und fasste bei Tag mit an. Doch schließlich erlag auch er dem Rhythmus des Meeres und schlief in den Stunden, in denen sie über spiegelglattes Meer fuhren, wachte, wenn die Wellen das Schiff auf und ab tanzen ließen. Ravin entging nicht, dass Darian häufig bei Sumal stand und sie über das Meer ausfragte. Und noch weniger entging ihm, wie bereitwillig und geduldig sie ihm auf jede Frage antwortete.
Einmal rief Sumal sie zusammen und deutete auf das Wasser. Vier Mähnenschlangen glitten neben dem Schiff durch das Meer. Riesig waren sie, beinahe so lang wie die Jontar. Ravin sah glitzernde, geschmeidige Leiber, die schwerelos das Wasser durchtanzten. Die transparenten Mähnen bauschten sich. Ab und zu erhaschte Ravin einen Blick auf Augen wie Edelsteine und rot umrandete Kiemen. Wunderschöne Wassergeister, die, als sie den Spaß am Boot verloren, abtauchten und im Dunkel der Tiefe verloschen. Ravin erinnerte sich an die gefangene Schlange auf dem Marktplatz und war dankbar, dass er das Bild des todgeweihten Tieres jetzt um ein Bild voller Leben und Übermut ergänzen konnte. Sumal Baji lächelte noch lange, nachdem die Schlangen abgetaucht waren. Ravin erkannte, dass die Kapitänin das Meer liebte.
Sie waren schon den vierten Tag auf See, als in der Ferne eine Ansammlung von spitzen Steilfelsen auftauchte. Sumal Baji rief die Mannschaft an Deck zusammen. Sogar Mel Amie wurde von den Pferden weggeholt und erschien missmutig an Deck.
»Wir werden heute noch den Kanal erreichen«, begann Sumal Baji. »Er ist schmal und relativ lang, wir fahren durch sehr tiefes Wasser, das viele Strömungen hat. Gefährliche Strömungen, aber unser Boot ist klein genug um ihnen ausweichen zu können.«
»Was ist mit den brennenden Fischen, Kapitänin?«, unterbrach Mel Amie sie.
Sumal warf ihr einen tadelnden Blick zu und fuhr fort.
»In der Nacht sind sie ein schöner Anblick. Aber eine Berührung mit ihnen versengt die Haut so schlimm, dass eine Heilung oft nicht möglich ist. Normalerweise sind sie sehr scheu und schwimmen niemals auf ein Schiff zu. Gefährlich werden sie nur, wenn sie in Panik geraten. Dann springen sie aufs Boot.« Sumal holte Luft und lächelte Darian an. »Also, wenn ein Fisch an Deck springt, dann fasst ihn niemals mit den Händen an. Und versucht auch nicht ihn in Tücher zu wickeln – sie sind unglaublich wendig und flink. Die Gefahr, dass er euch doch noch verbrennt, ist zu groß. Dort hinten …« – sie deutete auf einen Verschlag unter dem Hauptmast – »… sind lange Stangen mit Haken. Damit könnt ihr sie euch vom Leib halten. Ihr schlagt den Haken in den Fisch und werft ihn einfach wieder über Bord.«
Ravin sah Darian an, dass er vorhatte, es gar nicht so weit kommen zu lassen, einen brennenden Fisch ins Meer zurückbefördern zu
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