Im Bann des Fluchträgers
bemerkte mit einem Mal, dass sie ihn, Ravin, überhaupt nicht wahrnahm. Sie sprach nur mit Darian.
»Du warst es, nicht wahr? Du hast einen Zauber gesprochen!«
Darian errötete. Er versuchte ein Lächeln, das ihm nicht recht gelang und schüttelte den Kopf. Es war offensichtlich, dass ihn Sumals Frage wie eine Ohrfeige getroffen hatte.
»Nein.«
Sumal biss sich auf die Lippe.
»Aber ich dachte …«, sagte sie leise.
»Dann hast du falsch gedacht«, erwiderte er. »Mein Zauber kann niemanden vor dem Tod retten.«
Er drehte sich um und ging an Ravin vorbei unter Deck. Sumal sah ihm nach, dann wandte sie sich langsam wieder dem Meer zu und senkte den Kopf. In diesem Moment sah sie nicht aus wie die Kapitänin, sondern wirkte traurig und ratlos. Ravin räusperte sich. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er neben ihr stand.
»Er hat Schlimmes erlebt und ein verwundetes Herz. Du darfst es ihm nicht übel nehmen«, sagte er.
Am Horizont tauchte die Schwanzflosse des Grom ein letztes Mal auf und verschwand. Sumal Baji straffte die Schultern und nahm wieder die Gestalt der Kapitänin an.
»Nun, der Grom ist abgetaucht. Wir können zu den Korallen.«
Der Erste, der die Naj bemerkte, war Chaltar.
»Es sind Hunderte«, erklärte Sumal. »Sie schwimmen hinter der Jontar her.« Die anderen Taucher, die mit vollen Korallennetzen an Bord kletterten, deuteten aufgeregt auf das Wasser. Amina, die ebenfalls an Deck gekommen war, beugte sich weit über die Reling.
»Kann es sein, dass die Naj die brennenden Fische zurückgetrieben haben?«, sagte sie zu Ravin. »Vielleicht wollen sie die Jontar schützen.«
Im Wasser leuchteten helle Augen auf, hier und da erschien ein Strudel an der Wasseroberfläche und glättete sich sofort wieder. Einer dieser Strudel wühlte eine Erinnerung in Ravin auf. Und plötzlich war es ihm klar. Laios’ Gesicht erschien vor ihm. Laios, der ihm sagte, er solle sich auf die Pferde verlassen.
»Die Regenbogenpferde«, sagte er. »Die Naj schützen nicht die Jontar, sondern die Regenbogenpferde!«
Amina blickte ihn verdutzt an. Dann breitete sich ein Lächeln über ihr Gesicht.
»Natürlich! Und wenn es so ist, brauchen wir uns für den Rest unserer Reise keine Sorgen mehr zu machen. Sie werden uns die brennenden Fische und die Groms vom Hals halten!«
Sumal runzelte die Stirn, aber sie sagte nichts, als sie mit ansah, wie Ravin und Mel Amie Vaju und Dondo auf das Oberdeck brachten. Die Hufe klapperten über die Holzplanken. Vaju hob den Kopf und schnoberte. Dondo tänzelte, bis Mel Amie ihn losließ und sich sofort wieder unter Deck zu den anderen zwei Pferden zurückzog. Zum Erstaunen der Mannschaft, die kichernd und scheu zurückwich, erkundeten die Pferde das ganze Schiff, schnupperten an den Seilen und blieben schließlich an der Reling stehen. Vaju streckte mit gespitzten Ohren ihren Seepferdchenkopf über die Reling und wieherte ins Meer. Ein Raunen ging durch die Gruppe der Seeleute.
Die Naj versammelten sich um das Schiff. Hunderte von glasklaren Gesichtern hoben sich aus dem Wasser. Silberne, grüne und türkisfarbene Augen betrachteten Vaju und Dondo. Mit murmelnden Lauten verständigten sie sich, wisperten in der Najsprache und stießen sich im Wasser gegenseitig an. Vaju wieherte und ein Murmeln und Singen antworteten ihr. Sogar Sumal staunte. Schließlich schüttelte Vaju den Kopf und zog sich zurück um zu Ravin zu trotten. Er kraulte ihr die Wange. Die Naj tauchten unter, vereinzelt erst, dann wurden es immer mehr, bis schließlich auch der letzte verschwunden und das Wasser wieder still war.
»Es waren also die Naj«, meinte Sumal. »Wenn sie uns Menschen nur auch so gut beschützen würden. Vielleicht müssen wir uns immer ein Regenbogenpferd als
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