Im Bann des Fluchträgers
ablesen, ob das Bild, das sich ihr bot, sie ebenso erschütterte wie ihn und Darian. Sie betrachtete das tote Pferd lange und sehr genau.
»Wenn sie das tun«, sagte sie, »wenn sie sich an den Tjärgpferden vergreifen, dann sind sie zu allem fähig.«
Iril wischte sich die Tränen ab und sah sich um.
»Die Herde muss in der Nähe sein. Sie lassen keinen der ihren allein.«
»Es sei denn, sie werden gejagt«, sagte Darian und deutete auf die Spuren auf der Lichtung, die sie jetzt erst bemerkten. Viele Pferde war hier durchgetrieben worden, tief hatten sich die Abdrücke ihrer gespaltenen Hufe in den Boden gegraben. Dazwischen entdeckte Ravin mit Schaudern einen messerscharfen Halbkreis und zerschnittenes Wurzelwerk.
»Es waren Horjun«, stellte er fest. »Zumindest Horjun-Pferde.«
Die Königin drehte sich ruckartig um. An ihrem Schritt erkannte Ravin, dass sie wütend war, sehr wütend.
»Galim!«, rief sie und ihre Stimme war so schneidend, dass der angesprochene Wächter mehr von seinem Pferd fiel als sprang. »Deine Vorratsflasche!«
Der Wächter reichte ihr das Ledergefäß, das sie öffnete und umdrehte, sodass alles Wasser darin herausfloss. Als die Flasche leer war, ging sie zu dem toten Pferd. Ravin sah verwundert, dass sie wieder nicht wie eine Königin wirkte. In diesen Augenblicken erinnerte sie eher an Amgar, seine Lehrmeisterin, die ihm als Horjun das Kampfreiten beigebracht hatte. Für einen Moment wurde ihm klar, dass dies nicht der erste Krieg war, den die Königin kämpfte.
Sie kniete neben dem Pferd nieder und hielt das Gefäß an seinen Hals. Der Blutfluss war beinahe schon versiegt, doch sie drückte Blut aus der Wunde, das über ihre Finger floss, und fing es geschickt auf. Als die Flasche voll war, verkorkte sie sie und strich dem Pferd in einer Geste zärtlicher Behutsamkeit über die Mähne.
»Hier«, sagte sie zu Iril. »Offensichtlich wollen sie ihren Krieg auch gegen die Naj führen. Nun, das sollen sie haben. Suche die Herde und rufe die Naj, wenn es Zeit ist.«
Iril wischte sich mit dem Ärmel über die Nase und nahm die Flasche entgegen. Ravin wechselte einen düsteren Blick mit Darian. Beide wussten, dass dieses Bild, das sie vor sich sahen, der Beginn des Krieges gegen Badok und Diolen war: die Königin, Wut in den Augen, mit blutigen Händen; Iril, riesig, bleich, mit verweintem Gesicht; und zwischen ihnen das erste sinnlose Opfer des Krieges.
Die Königin holte Luft und wandte sich zu ihnen um.
»Darian, Ravin, ihr reitet weiter zum geheimen Lager. Suche deine Leute und bringe sie und deinen Bruder, so schnell du kannst, zur Steinburg. Verschanzt euch im Nordflügel der Burg und wartet dort auf uns!«
E
s war bereits Nacht, als sie Rast machten. Ravin lehnte sich an seinen Sattel und schloss die Augen. Bald würden sie im geheimen Lager sein. Obwohl er seit einem Sommer nicht mehr im Wald gewesen war, fiel es ihm nicht schwer, den Weg zu finden. Wehmütig erinnerte er sich an den Tag seines Abschieds. Wieder sah er Jolon vor sich und die Gesichter von Finn, Dila und all den anderen, die ihm hoffnungsvoll nachblickten, als er zu Gislans Burg aufbrach. Doch beim Gedanken, sie wiederzusehen, stellte sich Bitternis statt Freude ein. Nicht nur aus Angst, ihnen mit leeren Händen gegenübertreten zu müssen, nein, er vermisste auch das Gefühl, nach Hause zu kommen. Zwar erwarteten ihn dieselben Menschen, doch waren die Zeit und der Krieg über seine Heimat achtlos hinweggegangen. Sein Zuhause, das wusste Ravin, existierte nur noch in seiner Erinnerung. Und das, was er morgen vorfinden würde, war eine Heimat, die nur noch aus Gegenwart und Zukunft bestand, so ungewiss und flüchtig, wie jeder Tag seiner Reise es gewesen war. Noch nie war Ravin so bewusst geworden, wie
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