Im Bann des Fluchträgers
Königin war. Jemand saß darauf, der bereits im Raum gewesen war, als Ravin durch die Dienstbotentür in den Thronsaal geschlichen war.
Der Kommandant richtete sich wieder auf.
»Nun?«, fragte eine vertraute Stimme von der Höhe des Throns.
»Im südlichen Teil des Waldes dauern die Kämpfe an«, sagte der Narbige. »Gegen uns steht ein Heer von Waldkriegern. Ich schätze es auf dreihundert Mann. Hundert haben wir verloren, aber die Soldaten aus Run schlagen vor dem Abend zurück.«
»Am Rand der Südberge sammeln sich neue Truppen, Herr«, sagte ein anderer. »So wie es aussieht, rückt die Hexe noch heute mit neuen Truppen vor. Wenn wir nicht sofort …«
»Habt ihr das Lager gefunden?«, unterbrach Diolen ihn. Der Mann blinzelte müde und schüttelte den Kopf.
»Das Lager, nein, aber …« – er rang die Hände – »… unsere Horjun fallen! Wir brauchen Verstärkung um zu verhindern, dass noch mehr …«
»Du hast es also nicht gefunden.« Diolens Stimme klang freundlich, doch der Kommandant, den er unterbrochen hatte, wurde blass, presste die Lippen zusammen und schwieg. Ravin konnte seine Furcht beinahe fühlen. Ein anderer trat vor. Eine Prellung an seiner Schläfe deutete darauf hin, dass ein Stein aus einer Schleuder ihn gestreift hatte. Ravin krampfte sich das Herz zusammen beim Gedanken, dass der Waldmensch, der diesen Stein geworfen hatte, dafür vielleicht bereits mit seinem Leben bezahlt hatte.
»Wir haben etwas entdeckt!«, sagte der Kommandant.
Die Schritte von eisenbeschlagenen Stiefeln hallten auf den gläsernen Stufen der Throntreppe, dann erschien Diolen in Ravins Blickfeld. Von seinem Platz im Schatten des Sockels konnte Ravin nur sein langes Haar erkennen, das über den silbernen Umhang fiel, doch selbst dieser Anblick genügte um seine Kehle trocken werden zu lassen. Er wusste nicht, ob es Wut war, panische Angst oder beides.
Diolen ging auf seine Hauptleute zu und blieb vor ihnen stehen. Müde blickten sie ihn an.
»Gib her!«, sagte er und riss dem Krieger mit der Verletzung an der Schläfe das Papier aus der Hand. Hastig rollte er die Landkarte auf und überflog sie. Anspannung lag in der Luft, einige der Kommandanten wechselten einen besorgten Blick. Dann sah Ravin, wie Diolens Schultern sich senkten.
»Endlich eine Nachricht, die sich lohnt«, sagte er in seinem sanften Singsang. Ravin konnte das Lächeln beinahe spüren. Hass brodelte so jäh in ihm auf, dass er Mühe hatte, die Schleuder ruhig in seiner Hand zu halten.
»Hauptmann Kolin! Hauptmann Sil! Ihr bleibt in der Burg. Stellt eine Truppe von Run-Kriegern zusammen. Wir reiten noch heute. Geht nun.«
Verständnislosigkeit spiegelte sich in den Gesichtern der Hauptleute. Der Narbige trat noch einmal vor.
»Aber Herr!«, sagte er. »Meint Ihr nicht, das hat Zeit, bis die Horjun die Wälder eingenommen haben? Die Truppen der Hexe dringen vor, es wird ohnehin nicht einfach sein …«
»Ich habe gesagt, ihr dürft gehen, Sil.« Diolens Stimme war leise und beherrscht, dennoch vibrierte sie durch den Raum wie eine sirrende Schneide. Der Hauptmann wurde blass. Einen Moment durchbohrte sein Blick Diolen, dann machte er auf dem Absatz kehrt und verließ fluchend den Thronsaal. Einer nach dem anderen folgten sie ihm, zögernd, mit düsteren Gesichtern. Ihre Schritte verhallten auf dem Gang.
Nur ein einziger Krieger hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Die hagere, dunkle Gestalt mochte zwei Köpfe größer sein als Ravin. Sie trug noch den Helm und stand auf die Spitze ihres Schwertes gestützt vor dem Thron. Nachdem der letzte Hauptmann den Saal verlassen hatte, seufzte sie und nahm den Helm ab. Ihr Gesicht war unbeweglich und von Falten durchzogen. Glattes, schwarzes Haar fiel auf ihre Schultern. Ravin schlug die Hand vor den
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