Im Bann des Fluchträgers
nahm einen tiefen Schluck. Ravin wusste nicht, was er sagen sollte. Zu gerne hätte er mehr über Diolen erfahren, doch er biss sich auf die Zunge.
»Natürlich kenne ich Diolen«, begann der Alte nach einer Weile, als hätte er Ravins stumme Frage erraten. »Das heißt, ich kannte ihn. Macht und Gier können einen Menschen verändern und das Schlimmste in ihm wecken. Du brauchst gar nicht den Kopf zu schütteln, Waldmensch. Ich nehme Diolen nicht in Schutz und nichts kann je entschuldigen, was er eurem Mädchen angetan hat. Und dennoch weiß ich, dass niemand nur gut oder nur böse ist. Wer weiß, was aus dir werden würde, wenn du auf der Seite stündest, die wir die falsche nennen? Du bist geschickt, du verstehst es, die Menschen mit Worten zu lenken. Aus dir könnte ein gewitzter Hauptmann werden, ein Herrscher – oder ein Verräter.«
Er lehnte sich mit einem Seufzen zurück.
»Ich habe Diolen aufwachsen sehen. Er war kein schlechter Junge – im Gegenteil. Er war klug, außergewöhnlich klug. Er liebte Musik, die Leute hatten ihn gern. Er war ganz anders als sein Vater Badok, der ein Kämpfer ist, grimmig, jähzornig und wortkarg – doch stets gerecht. Zumindest war er das, bis er sich schlechte Berater suchte.«
»Zauberer?«
Der Alte runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.
»Nein, das glaube ich nicht. Es war ein Reisender, vermutlich aus Skumran, nördlich der Feuerberge. Jedenfalls trug er deren Tracht, als ich ihn zum ersten Mal sah. Als er bei Hofe erschien, hat sich alles geändert. Badok wurde noch verschlossener und schroffer. Und was viel wichtiger war, er begann willkürlich und ungerecht zu sein. Schließlich übertrug er gegen den Rat seiner Hauptleute Diolen die Herrschaft über die Horjun. Und diese plötzliche Macht stieg dem Jungen offensichtlich zu Kopf.«
»Wo ist dieser Berater jetzt?«
Der Mann lächelte tiefgründig.
»Er verschwand so schnell, wie er gekommen war. Wahrscheinlich hat Badok ihn umbringen lassen. Unmittelbar danach standen die ersten Krieger aus Run vor der Burg. Und Badok gewährte ihnen Einlass. Mich hat er noch am selben Tag verbannt und meine Lehrlinge in alle Winde zerstreut. Nur weil ich eines seiner Staubgesichter dahin geschickt habe, wo es hingehörte. Er glaubt, ich bin nicht mehr in Skaris. Aber es ist mein Gebirge! Hier bin ich geboren, hier werde ich über die lichte Grenze gehen. Und wie du siehst, helfe ich manchmal denen, die unter Badoks und Diolens Wahnsinn leiden.«
Ravin betrachtete den Dampf, der aus seiner Schale aufstieg und seltsame Figuren bildete. Er sah ein Pferd, das sich in einen Vogel verwandelte, und zwinkerte. Müdigkeit vernebelte seine Gedanken.
»Dann warst du das«, sagte er. »Als Amina und ich über die Kluft gesprungen sind und die Horjun uns nicht gefunden haben.«
Der Mann schien ein wenig zu erröten.
»Nun ja«, gab er zu. »Ein Spiegelzauber, wie ihn in manchen Dörfern hier jedes Kind beherrscht. Ihr wart zwei und sie zu zehnt.«
»Und du und deine Brüder waren zufällig am richtigen Ort, um uns in dem riesigen Gebirge rechtzeitig zu entdecken?«
»Welche Brüder?«, fragte der Mann aufrichtig erstaunt.
»Die anderen Männer, die genauso aussehen wie du. Vier waren es auf dem Plateau.« Der Mann schaute ihn verblüfft an, dann begann er langsam zu verstehen und brach in Gelächter aus.
»Das war alles ich! Das ist ebenfalls ein Spiegelzauber, allerdings einer, der in die Zeit gewebt wird.« Er lächelte stolz. »Diesen Zauber beherrsche nur ich. Dadurch bin ich schneller als irgendjemand sonst in Skaris. Ich kann an jedem Ort gleichzeitig sein.«
Er wurde ernst.
»Ich beobachte euch bereits eine ganze Weile. Schon seit damals, als du durch den Tunnel zu den Burggärten gelangt bist. Da war eine ziemlich große Martiskatze
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