Im Bann des Fluchträgers
die Stirn. Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit überwältigten ihn, als er das gequälte Gesicht seines Freundes betrachtete. Zitternd legte er sich neben ihn auf das Fell und schloss die Augen. Nichts war da. Niemand. Kein Traumfalter, kein Gesicht, keine Stimme. Nur Dunkelheit und der leere Gedanke an Jolon, der Ravin das Herz schwer werden ließ. Und da war Sella. In der Schlucht lag sie, hingestreckt auf dem grausam glatten Fels. Ihr Haar schmiegte sich wie eine ausgebreitete Vogelschwinge an den Stein. Als hätte dieses Bild Darian aufgeschreckt, regte er sich und kämpfte sich aus seinem Fieberschlaf in die Wirklichkeit.
»Ravin?«, flüsterte er. Trotz allem tat es so gut, Darians Stimme zu hören. »Ravin, ich habe geträumt, dass Sella …«
Er wandte Ravin sein bleiches Gesicht zu. Traumbilder irrlichterten in seinen Augen.
»Es war kein Traum, nicht wahr?«
Ravin erschrak über die sanfte Stimme des Freundes.
»Nein«, flüsterte er und schämte sich dieses Wort auszusprechen. Darian wurde noch bleicher und sah ihn lange an. Dann wandte er den Kopf zur Wand.
D
ie Trauerzeremonie für Sella war feierlich und trauriger als alles, was Ravin bisher erlebt hatte. Vor ihnen erhob sich die Klippe. Wenn man nach oben sah, konnte man den Rand des Tonjun-Plateaus erkennen, von dem Sella in den Tod gestürzt war. Skaardja hatte sie in Sichtweite des Plateaus begraben, dort wo die glatte Felsplatte aufhörte. Betroffen betrachteten sie den Fels, auf dem noch der Blutfleck zu sehen war. Ein paar von Sellas langen Haaren hatten sich an den Kanten des Steins verfangen und wehten in der Brise. Bei dem Anblick wurde Ravin übel und er musste sich abwenden.
Skaardja hatte sich zurückgezogen und so waren sie unter sich, in einem magischen Schutzkreis, aus der Ferne beäugt von den Hallgespenstern. Mel Amie stand versteinert und lauschte mit geschlossenen Augen den Totenworten, die einer der älteren Krieger sprach, während die Tränen ihm über die faltigen Wangen liefen. Ladro hielt den Kopf gesenkt, Amina saß neben ihm und hielt die Hände ineinander gekrampft. Ab und zu wanderte ihr Blick besorgt zu Darian, der neben Ravin stand und auf den Boden starrte. Seit seiner Frage in der Nacht hatte er kein Wort gesprochen und keine Träne geweint. Als die Zeremonie beendet war und jeder seine Hand auf Sellas Erde gelegt hatte, hob er den Blick und betrachtete den Felsensaum des Plateaus weit über ihm.
Die Höhlentreter hatten ein Mahl vorbereitet, das sie nun in großen Körben anschleppten. Es bestand aus gedünsteten Kräutern mit Beeren und schwarzem Wein. Skaardja erklärte, in den Bergen sei dies das Totenmahl. Bei diesem Wort zuckte Darian zusammen. Der Ausdruck in seinen Augen war beängstigend. Selbst Ravin erschauerte, als er das unheimliche Glühen sah, das seinem Freund das Aussehen eines wahnsinnigen Schlafwandlers gab. Mit Darians Herz schien Sella auch sein Lächeln mit in ihr Grab genommen zu haben. Ravin bemerkte verzweifelt, wie sich die Hoffnungslosigkeit über sie alle senkte. Aminas Augen waren vom Weinen rot und geschwollen. Nur Skaardja ließ sich von der Niedergeschlagenheit nicht anstecken.
»Na, was wird jetzt aus euch?«, fragte sie, als sie zum Totenfeuer trat und die Flammen mit Widerwillen betrachtete. »Und wenn ihr noch so lange trauert – euer Mädchen kommt nicht zurück. Ihr aber lebt noch!«
Ladro wischte sich über die Augen. Skaardja ließ nicht locker.
»Ihr habt keine Zeit für ein Trauerjahr, wenn ihr mich fragt«, sagte sie.
»Das wissen wir«, erwiderte Ladro ungehalten.
Skaardja hob die Brauen.
»Also? Wie sieht euer Plan aus?«
Darian hob den Kopf.
»Nach Tjärg – so schnell es geht«, sagte er. Mel Amie und Ladro wechselten einen raschen Blick. Aus
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