Im Bann des Highlanders
begann sie, laut zu schluchzen. Sie schwor sich, nie wieder auf eigene Faust und ohne Begleitperson Exkursionen zu unternehmen, und im Geiste sah sie sich bereits in der Pension ein heißes Bad nehmen, nachdem sie etwas gegessen und getrunken hatte.
Die Männer dort oben schienen zu beratschlagen, und es kam Joan wie eine Ewigkeit vor, bis ein grobes Tau heruntergelassen wurde, an dessen Ende sich eine Schlaufe befand.
Mit dem unverletzten Fuß trat Joan in die Schlaufe, rutschte mit ihrem Sneaker ab und versuchte es ein weiteres Mal. Beim dritten Versuch schließlich steckte ihr Fuß sicher in der Schlinge, und sie zupfte einmal kräftig am Seil, woraufhin die Männer langsam, aber stetig – unterstützt von einer Art Singsang - sie in die Höhe zogen.
Es kam Joan wie eine Ewigkeit vor, bis das Licht heller und die Luft wärmer wurde.
Ihre Hände umfassten die morschen Holzbohlen, an denen sie sich die letzten Zentimeter aus eigener Kraft hinauf zog.
Dann hangelte sie ihren restlichen Körper aus dem unfreiwilligen Gefängnis und fiel mit einem lauten Stöhnen bäuchlings direkt vor die Füße ihrer Retter.
Tief sog sie die frische Waldluft ein, noch nie hatte sie den Geruch nach Holz, Moos und Laub so intensiv gespürt. Sie wusste nicht, wie lange sie so dagelegen hatte, bis sie endlich merkte, dass die Männer keine Anstalten machten, sich weiter um sie zu kümmern.
Als Joan die Augen öffnete, traf ihr Blick auf ein paar nackte, beharrte Unterschenkel, die Füße steckten in einer Art zusammengebundener Lumpen. Schlagartig verflog Joans Erschöpfung und sie richtete sich auf.
Dicht vor ihr standen zwei Gestalten, wie Joan sie noch nie gesehen hatte – beide Männer trugen lange, verfilzte Haare, in denen sich Kletten und Blätter festgesetzt hatten, ihre ungepflegten Bärte waren lang und ebenso verfilzt wie das Haupthaar.
Die weiten Hemden, die einst weiß gewesen sein mochten, starrten vor Schmutz und wiesen etliche Löcher und Risse auf, und anstatt Hosen trugen die Gestalten knielange, rockähnliche Gebilde in einer undefinierbaren Farbe.
Die Männer schienen Joan mit demselben ungläubigen Interesse anzustarren, wie sie es tat. Schließlich richtete sie sich ganz auf, räusperte sich und fragte mit vom Schreien heiserer Stimme: »Ich danke Ihnen für Ihre Rettung und ...«
Noch bevor sie weitersprechen konnte, trat einer der Männer dicht vor sie, spuckte mit verächtlicher Miene direkt vor ihr aus und rief: »Sasannach 1 !«
1 Verächtliche Bezeichnung für Engländer und alles Englische
Joan starrte weiterhin auf die zerlumpten, gefährlich aussehenden Gestalten, die sich plötzlich murmelnd berieten.
Einer der Männer schüttelte ein ums andere Mal den Kopf, während der andere gestikulierend auf ihn einredete und immer wieder auf die Frau zeigte.
Schockiert stellte Joan fest, dass sie in derselben oder einer ähnlichen Sprache redeten wie die Stimme in ihren Träumen. Warum sahen die Männer so aus, als wäre die Zivilisation spurlos an ihnen vorbeigezogen?
Am liebsten hätte sich Joan davon geschlichen, doch das ließ ihr verstauchter Knöchel nicht zu. Und so blieb ihr nichts anderes übrig, als zu warten, bis die Männer ihre hitzige Unterhaltung beendet hatten und sich wieder ihrer erinnerten.
Aber konnte man überhaupt diese merkwürdigen, heruntergekommenen Kerle bitten, sie zur Burgruine zu führen? Sie schienen kein Englisch zu verstehen, und als sie plötzlich näher traten, bemerkte sie den gefährlichen Ausdruck in ihren Gesichtern, der sie erschauern ließ.
Ehe sie es sich versah, wurde sie an den Armen gepackt, unter einem Wortschwall unverständlicher Worte in die Mitte genommen und mitgezogen. Mit ihrem gesunden Fuß versuchte sich Joan der Entführung zu widersetzen, doch dieser klägliche Versuch der Befreiung brachte die Männer lediglich zum Lachen. Dabei fiel Joan beiläufig auf, dass sie kaum Zähne im Mund hatten, und die wenigen Stumpen, die noch vorhanden waren, sahen braun und verfault aus.
Die Männer achteten kaum auf Joans Humpeln und behielten ihren zügigen Schritt bei, der Griff um ihre Oberarme war zu beiden Seiten eisern und unnachgiebig. Vor Schmerzen schluchzte Joan auf, doch ihre Entführer scherten sich nicht darum, sondern setzten ihren Weg schwatzend und lachend fort.
In Joans Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander. Wer waren diese Typen und was hatten sie mit ihr vor? Fern jeder Ortschaft war sie hilflos diesem lichtscheuen Gesindel
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