Im Bann des Kindes
Kreaturen eines Volkes, das sich selbst die »Alte Rasse« nannte, zu sich gelockt hatte, um sich zu stärken und innerhalb Minuten um Jahre heranzuwachsen. 1
Alte Rasse! Was wußten sie, was alt bedeutete - wirklich alt. Sie mochten existieren seit dem Anbeginn dieser Welt, über die sie seit jeher im Geheimen geherrscht hatten. Aber wirkliches Alter wurde nach anderen Maßstäben gemessen. Nach denen der Ewigkeit. Und obwohl Gabriels Dasein erst seit einigen Wochen währte, wußte er um die Bedeutung dieses Gedanken.
Natürlich .
Nun, die fliehenden Kräfte der Vampire hatten ihn genährt, waren der Impuls gewesen, den er gebraucht hatte, um seine Entwicklung in Gang zu setzen. Ihre Energie war von der Art gewesen, die er umsetzen konnte. Und was Mariah ihm hatte geben können, hatte seine jungen Kräfte wachsen lassen.
Sie war mit dem Neugeborenen gen Norden geflohen, hatte ihn in Sicherheit gebracht vor einer anderen Macht, der Gabriel damals noch nicht gewachsen gewesen war.
Aber er erinnerte sich an die Frau, die tief in sich diese fremde Macht verkörperte. Sie hatte ihn im Arm gehalten; hatte ihn, nicht wissend, wer oder was er war, retten wollen vor einer Gefahr, die ihm keine gewesen war.
Und er hatte ihre Stärke gefühlt. Eine Kraft, die er haben wollte -und die er bekommen würde.
Die Spur war gelegt, und sie würde ihr folgen.
Weil sie nicht anders konnte.
Gabriel trat ans Fenster und sah hinaus in die Nacht. Als könnte er kaum erwarten, daß sie endlich kam - jene Frau, deren Namen er nicht kannte und von der er nur wußte, daß sie ebenso schön wie stark war.
Ihre Kraft würde ihm munden. Anders als die von Clarence Mir-vish. Und besser vielleicht sogar als die Jennifers.
Jennifer .
Sie mochte sich noch immer nicht völlig erholt haben, aber es gab keinen Grund, sie noch länger zu schonen. Er würde sie nicht mehr lange brauchen, und so konnte er ihr ruhig nehmen, was sie ihm noch zu geben imstande war.
Eine andere würde bald schon ihren Platz einnehmen. Ein Wesen, in dem das Erbe der Alten Rasse war. Und noch etwas anderes . »Ein Kind zweier Welten«, flüsterte Gabriel.
Er lächelte, als er hinausging. Die Worte gefielen ihm, und er sang sie vor sich hin. Wispernde Echos begleiteten ihn auf seinem Weg zu Jennifers Zelle -- die der Widderköpfige betrat.
*
Die Sonne stieg aus dem Atlantik. Und die Glut der gleißenden Scheibe schien die Fluten zu verdampfen. Nebel wogte vom Horizont heran und flutete mit machtvollem Rauschen gegen die schroffe Küste des Landstrichs, in dem Raphael Baldacci sich unversehens wiedergefunden hatte.
Wenn überhaupt, so hatte Raphael nur Sekunden damit zugebracht, sich über die merkwürdige Art und Weise seiner »Reise« zu wundern. Es war Teil seiner Ausbildung gewesen, sich mit Gegebenem klaglos abzufinden und sich mit jeder Umgebung und Situation, mochte sie auch noch so ungewöhnlich sein, schnellstens vertraut zu machen.
Nicht anders war der Gesandte hier vorgegangen.
Er hatte die Nacht damit zugebracht, sich zu orientieren. Er war umhergewandert, hatte die Gegend erforscht, soweit es ihm dienlich sein konnte. Und so hatte er in Erfahrung gebracht, daß er nahe einem Dorf namens Meat Cove »gelandet« war. In einem Land, das Nova Scotia genannt wurde und im Westen Kanadas lag. In Teilen ähnelte es durchaus jener Landschaft, die auf dem Gemälde zu sehen gewesen war.
Auf jenem Gemälde, das er sowohl schon im Original als auch als Kopie kannte. Das Original hatte er vor Wochen im US-Bundesstaat Maine erblickt, in dem Örtchen Salem's Lot. Dorthin hatte ihn die Spur der Träumerin Jennifer Sebree geführt, und er hatte auch die Träumerin selbst ausfindig gemacht - ohne sie jedoch wie befohlen sofort zum Orden zu bringen.
Etwas anderes war ihm plötzlich wichtiger gewesen. Jemand.
Eine Frau namens Lilith Eden.
Er hatte mit ihr geschlafen.
Und anderntags versucht, sie zu töten, als sie ihr wahres Wesen offenbart hatte.
Sie war eine Vampirin.
Er hatte sich auf sie gestürzt, beseelt von einem Haß und getrieben von einer Kraft, deren Quelle er sich bis heute nicht erklären konnte.
Nur - gelungen war es ihm nicht, Lilith zu vernichten. Zu erlösen. Jennifer, die Träumerin, war dazwischengegangen, hatte ihn niedergeschlagen, und als er wieder erwachte, waren alle verschwunden gewesen: Lilith, Jennifer - und das Bild, das die Träumerin selbst gemalt hatte. 2
Als er es nun wiedererkannt hatte, gemalt nach den Vorgaben, die einer der
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