Im Bann des Maya-Kalenders
therapeutisch verarbeiten. Die Untersuchungsbehörden gaben sich mit dieser Erklärung zufrieden. Eine verhängnisvolle Naivität, denn die Kultmitglieder wurden während der »therapeutischen Sitzungen« auf den »Transit« vorbereitet. Die nachträglichen Ermittlungen ergaben, dass mehrere Sonnentempler maßlos enttäuscht waren, dass Di Mambro sie nicht auch auf die apokalyptische Reise zum Planeten Sirius mitgenommen hatte.
Welche Rolle spielte Stardirigent Michel Tabachnik?
Bei ihren Untersuchungen stießen die Untersuchungsbehörden immer wieder auf den Namen Michel Tabachnik. Der Schweizer Stardirigent hatte sich jahrelang im Umfeld des okkulten Ordens bewegt. Der damals 53-jährige Tabachnik beteuerte aber monatelang,
er sei nicht Mitglied der Sonnentempler gewesen, sondern habe nur gelegentlich an Anlässen teilgenommen. Eine zweifelhafte Aussage, denn der Dirigent kannte den Kultführer Jo Di Mambro seit 1977 und hielt wiederholt Vorträge im Rahmen des Ordens, zum letzten Mal am 24. September 1994 in Avignon, also wenige Tage vor den Massakern in Cheiry und Salvan. Außerdem begleitete Tabachnik die Kultanhänger auf ihren »spirituellen Reisen«, zum Beispiel zu den Pyramiden von Ägypten, die in esoterischen Kreisen als außerordentliche Kraftorte gelten.
Tabachniks Name stand auch auf der Liste eines Schneiders von Québec, der die Ordensgewänder genäht hatte. Der Name des Dirigenten wurde an zweiter Stelle aufgeführt, direkt hinter Di Mambro. Die Liste umfasste 576 Namen. Ein Indiz, dass der selbst bei Sektenexperten kaum geläufige Orden recht groß war und sich radikal abschottete. Tabachnik trug bei den Ritualen jeweils einen Ordensumhang, wie ehemalige Sonnentempler bestätigten. In der Regel durften nur eingefleischte Mitglieder Kultgewänder tragen und an den Ritualen teilnehmen. Auch in den Protokollen des »Obersten Rates« wird Tabachnik an zweiter Stelle direkt hinter dem Guru aufgeführt. Der Dirigent präsidierte auch die von Di Mambro gegründete Stiftung Golden Way, einer Nebenorganisation der Sekte. Außerdem befand sich Tabachniks erste Frau unter den 23 Todesopfern von Cheiry. Doch die Untersuchungsbehörden scheuten sich lange Zeit, den prominenten Mann zu belangen.
Erst am 11. Juni 1996, also rund 20 Monate nach dem Sektendrama von Salvan und Cheiry, wurde Tabachnik in Nanterre bei Paris verhaftet. Nach dem Ereignis von Vercors hatten sich die Verdachtsmomente gegen den Dirigenten weiter verdichtet. Kurz darauf wurde Tabachnik der Mitgliedschaft bei einer kriminellen Organisation angeklagt. Ihm wurde auch vorgeworfen, er habe von Di Mambro beträchtliche Ordensgelder kassiert. Trotzdem beteuerte Tabachnik weiterhin, er sei kein aktives Mitglied des Ordens gewesen. In einem Brief an verschiedene
Journalisten kündigte Tabachnik am 25. Juni 1997 an, er werde ein Buch über seine Erlebnisse schreiben und die Wahrheit festhalten. Der Dirigent beschuldigte die Medien, sie hätten ihn vorverurteilt. Seit er mit den Sonnentemplern in Verbindung gebracht worden sei, habe er keine Engagements als Dirigent mehr bekommen.
Kinder betteln um ihr Leben
Am 22. März 1997 wurde in St. Casimir in Kanada Brandalarm ausgelöst. Die Feuerwehrleute entdeckten in einem brennenden Landhaus fünf Leichen. Aus einem Nebengebäude torkelten drei verstörte Jugendliche. Was das Mädchen und die beiden Jungen im Alter von 13, 14 und 16 Jahren erzählten, erschütterte die Polizeibeamten. Ihre französischen Eltern, Didier und Chantal Quèze, hätten sich zusammen mit drei weiteren Sonnentemplern auf die Reise zum Planeten Sirius gemacht, erklärten die Jugendlichen. Dies sei bereits der zweite Versuch gewesen. Beim ersten Transit hätten Pannen den kollektiven Suizid verhindert.
Die Kinder waren nach dem Fehlversuch geschockt. Sie wollten den Horror nicht noch einmal über sich ergehen lassen und bettelten um ihr Leben. Die Eltern erwachten aber nicht aus ihrem Wahn und glaubten noch immer, das bevorstehende apokalyptische Fanal in den astralen Sphären überleben zu können. Vater Didier Quèze ließ sich nach langen Auseinandersetzungen mit seinen Kindern erweichen. Um ihnen das Drama zu ersparen, gaben die Eltern den Jugendlichen starke Beruhigungsmittel und brachten sie halb betäubt in einem Nebengebäude unter. Diesmal funktionierte der »Transit«, das Haus ging planmäßig in Flammen auf.
»Sie sind realistisch und wissen, was passiert ist und dass ihre Eltern nicht mehr am Leben sind«,
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