Im Bann des Maya-Kalenders
zwei unbekannte Helfer das Drama inszeniert hatten. Es ist nicht auszuschließen, dass weitere Kultmitglieder anwesend waren, möglicherweise auch Jo Di Mambro. Wer die tödlichen Schüsse abgab, ließ sich nicht ermitteln. Offen ist auch die Frage, ob die Kultanhänger das Beruhigungsmittel freiwillig eingenommen hatten
oder ob sie gefesselt worden waren, weil sie Widerstand geleistet hatten. Auch die Funktion der Plastiksäcke blieb unklar. Waren alle Kultmitglieder bereits tot, als ihnen die Säcke übergestülpt wurden? Sollten diese ein Sauerstoff-Defizit bewirken und den Tod beschleunigen? Oder dienten die brennenden Plastiksäcke dazu, die Gesichter der Opfer unkenntlich zu machen?
Rund 24 Stunden nach der Hinrichtung der Kultanhänger durch ihre Ordensbrüder ging das Kultzentrum in Flammen auf. Die Täter hatten drei verschiedene Brandsätze installiert, die sie fernzünden konnten. Die Polizei wies nach, dass Teile der Brandsätze bereits im Juni 1994 gekauft worden waren. Zu diesem Zeitpunkt hatte auch Egger die Pistole erworben, mit der die Ordensmitglieder erschossen wurden. Diese Hinweise nährten die Vermutung, dass der Massenmord langfristig geplant worden war. Der Zündmechanismus eines Brandsatzes, der über einen Telefonanruf ferngezündet wurde, funktionierte aber nicht. Zwei Gasflaschen, die den unterirdischen Kultraum hätten in Brand setzen und die Leichen verkohlen sollen, gingen nicht los. Die Panne erleichterte die Identifizierung der Leichen erheblich, zumal die Polizei im Sanktuarium 15 unbeschädigte Ausweise fand.
Bei den Opfern von Cheiry handelte es sich offensichtlich um Mitglieder des Kerns der Sonnentempler. Indizien deuteten darauf hin, dass sie dem mystischen Schwindel von Di Mambro auf die Schliche gekommen waren und die Rückzahlung ihrer Darlehen verlangt hatten. Der Sektenführer hingegen war offensichtlich überzeugt, den skeptischen Ordensmitgliedern einen spirituellen Dienst geleistet und sie vor der Apokalypse gerettet zu haben. Nach seiner Lesart hatten die ermordeten Anhänger »Hilfe erhalten« und die »Wohltaten der Translation« empfangen, ohne dass es ihnen bewusst geworden war, wie der Guru in seinem Abschiedsbrief festhielt. Zu den Opfern gehörten hochrangige Kadermitglieder wie der 68-jährige Schatzmeister und Mäzen Camille Pilet und führende Mitglieder des kanadischen
Arms des Ordens wie Robert Ostiguy, Bürgermeister von Richelieu, einem Vorort von Montreal, und Robert Falardeau, ein hoher Beamter des Finanzministeriums. Verschiedene Opfer von Cheiry hatten wahrscheinlich versucht, sich vom Orden zu lösen. Möglicherweise förderte der starke kanadische Zweig mit seiner Opposition den Endzeitwahn des Kultgründers und beschleunigte das apokalyptische Drama.
Vermutlich rief Di Mambro die Dissidenten oder unzufriedenen Anhänger ins Zentrum von Cheiry. Unter welchem Vorwand dies geschah, ist nicht geklärt. Der Kultgründer hat sie wahrscheinlich mit dem Versprechen in die Schweiz gelockt, er wolle die finanziellen Angelegenheiten mit ihnen regeln. Sie hatten ihm teilweise ihr ganzes Vermögen zur Verfügung gestellt oder vergeblich auf eine angemessene Entschädigung für ihre jahrelange Fronarbeit gepocht. Die Kultführer, die sich von den Ordensmitgliedern aushalten ließen, lebten dagegen weit über ihre Verhältnisse. Di Mambro und Luc Jouret jetteten in der ersten Klasse zwischen den Stützpunkten ihres Sektenimperiums in Kanada, Frankreich, Australien und der Schweiz hin und her und kauften mit dem Vermögen der Anhänger immer neue Immobilien.
Feueralarm im Wallis
Drei Stunden nach der Entdeckung des Feuers in Cheiry wurde im etwa 150 Kilometer entfernten Walliser Dorf Granges-les-Salvan ebenfalls Feueralarm ausgelöst. Drei Chalets standen in Flammen. In zwei Häusern entdeckte die Feuerwehr insgesamt 25 Leichen, unter ihnen Jo Di Mambro und Luc Jouret. Die Polizei fand eine Pistole mit Schalldämpfer, aus der auch die Schüsse auf die Kultanhänger in Cheiry abgegeben worden waren. Außerdem brannte ein Auto mit Freiburger Nummernschild in Salvan aus. Laut Polizei begingen 15 der 25 Ordensmitglieder
Selbstmord. Die übrigen wurden ermordet, auch der Sohn von Di Mambro. Offenbar wollten sie den »apokalyptischen Transit« nicht freiwillig mitmachen.
Eine Videokassette, die die Polizei in den Trümmern eines niedergebrannten Chalets in Salvan fand, gibt Einblick in den psychischen Zustand des Kultführers. Di Mambro hatte nämlich den
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