Im Bann des Maya-Kalenders
kandidierten er und 24 seiner Jünger erfolglos für das japanische Parlament. Der Misserfolg, auf legale Weise Einfluss zu gewinnen, begünstigte seine apokalyptischen Visionen und seinen Hang zum Terror. Asahara organisierte sein Sektenreich wie einen Staat. Sein »Wissenschaftsminister« Hideo Murai erhielt die Aufgabe, eine eigene Giftgas- und Waffenproduktion aufzubauen, und »Bauminister« Kiyohide Hayakawa kaufte in Russland Kriegsmaterial ein, unter anderem einen Mi-17-Hubschrauber.
Die militärische Aufrüstung sollte dem Guru dazu verhelfen, den japanischen Kaiserthron zu besteigen und letztlich die Weltherrschaft zu erringen. Seine Vision erklärte Asahara den Anhängern in der Sprache von Science-Fiction-Comics wie dem
»Raumkriegsschiff Yamato«: Ein Kampf zwischen Japan und den USA – mit Laser- und Weltraumwaffen geführt – würde in den Dritten Weltkrieg und in ein nukleares Inferno münden. Aussicht auf Rettung verhieß der Guru nur jenen Auserwählten, die sich seinen religiösen Riten willenlos unterwarfen. Wer sich aber der Gehirnwäsche – gefördert durch Drogen wie LSD – entzog oder als Spion verdächtigt wurde, den ließ Asahara ins »Jenseits« befördern: durch Erdrosseln, erzwungenes Baden in heißem Wasser oder Giftgasattacken.
Damit begannen sich die apokalyptischen Visionen in seiner Seele festzusetzen. Seine Prophezeiungen nahmen immer düstere Formen an. Ende der 1980er-Jahre wollte Asahara noch einen Großteil der Weltbevölkerung vor der Apokalypse retten. Später schottete Asahara seine Sekte immer stärker ab. Der Guru gab die Welt verloren und entwickelte Rachegefühle. Die apokalyptische Erlösung reservierte er nun für seine Bewegung. Asahara sagte Harmagedon für das Jahr 2000 voraus. Gleichzeitig prophezeite er den dritten Weltkrieg.
Ohne den Import von okkulten Heilsvorstellungen aus dem Westen wäre Aum wohl kaum so stark in den Endzeitwahn abgedriftet. Asahara rutschte nämlich in eine apokalyptische Scheinwelt ab, als er sich mit den verschiedenen Strömungen aus dem Bereich von New Age und Esoterik westlicher Prägung befasste. Der Guru war fasziniert vom unerschöpflichen Reservoir kultischer oder okkulter Ideen, die New-Age-Strömungen und theosophische Zirkel verbreiteten. Von Nostradamus über Share International mit dem apokalyptischen Weltenlehrer Benjamin Creme, von den Weltverschwörungstheorien bis zu den Rosenkreuzern, von der christlichen Apokalypse bis zur Astrologie verschlang er die gesammelten Endzeittheorien amerikanischer und europäischer »Propheten« und Kultgruppen. Dieser kultische Mix förderte seine Verschwörungsängste und begünstigte die Fanatisierung. Wahrscheinlich verwirrte diese Überdosis an apokalyptischen Ideen sein Bewusstsein weiter und brachte ihn
zur Überzeugung, dass nur die selbst inszenierte Apokalypse Erlösung für ihn und seine Anhänger bringen konnte.
Shoko Asahara kontrollierte seine Anhänger nicht nur durch die Entfremdung von der angestammten Umgebung und die enge Bindung an die Ashrams, der Guru verordnete ihnen spartanische Yogaübungen, die sie an die Grenze körperlicher und psychischer Belastung brachte. Auch Reinigungsprozeduren, Schlafentzug und Psychostress gehörten zu den Indoktrinationsritualen, die oft mit Drogen unterstützt wurden und bewusstseinsverändernde oder persönlichkeitszerstörende Prozesse auslösten.
Die entwürdigenden Kultpraktiken erforderten einen absoluten Gehorsam und grenzten an Folter. Asahara benutzte auch körperliche Züchtigungen, die in Einzelfällen tödliche Folgen hatten, wie Abtrünnige vermuten. Die Anhänger waren Marionetten im apokalyptischen Theater des Gurus, Statisten auf der Bühne eines größenwahnsinnigen Egomanen, der sich berufen fühlte, die spirituelle Autorität für die gesamte Menschheit zu sein.
Erstaunlicherweise vermochte Asahara mit seinen asketischen Lebensformen viele Akademiker anzuziehen. Die Kultbewegung hatte bald Zehntausende Anhänger im In- und Ausland. Asahara behauptete gar, mehrere hunderttausend Adepten würden ihn als göttliche Autorität verehren. Allein in Russland ließen sich rund 30.000 Anhänger in den Bann des Gurus ziehen. In Japan sollen es aber »nur« 10.000 gewesen sein.
Nach dem Anschlag auf die U-Bahn von Tokio vom 20. März 1995 war die japanische Öffentlichkeit schockiert, das Vertrauen in die Behörden erschüttert. Die Polizei startete sofort Razzien in den Sektenzentren. Trotzdem geschahen weitere seltsame
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