Im Bann des Maya-Kalenders
befand sich eine große Menge des tödlichen Blausäuregases. Am 16. Mai entdeckte die Polizei den Guru, der eher wie ein Waldmensch denn ein charismatischer Sektenführer wirkte, in einer winzigen Geheimkammer im Aum-Zentrum von Kamikuishiki.
Shoko Asahara litt unter Verfolgungsängsten und konstruierte abstruse Verschwörungstheorien. Er träumte davon, seine Sektenanhänger militant aufzurüsten und geheime Stoßtrupps aufzubauen. Der meditierende Guru bereitete sich in seiner Verblendung auf den Kampf gegen die Weltmächte vor und deckte sich mit allen verfügbaren Waffen und Vernichtungsmitteln ein. Auf der geheimen Einkaufsliste standen spaltfähiges Material, chemische und biologische Waffen, Hubschrauber und Panzer. Als Hauptlieferant sollten Waffenschieber aus Russland dienen. Seine Anhänger hatten bereits ein führendes russisches Entwicklungslabor mit dem Ziel unterwandert, an Atomwaffen heranzukommen. Die Anschläge in Matsumoto und Tokio waren Testläufe für seinen Glaubenskrieg. Asahara verfolgte das Ziel, die »dekadente Welt«, die die apokalyptische Entwicklung angeblich ignorierte, mit terroristischen Anschlägen zu überziehen.
Angesichts dieser Pläne ist der Anschlag in Tokio relativ glimpflich abgelaufen. Eigentlich hätte Asahara im Herbst 1995 mit einem Hubschrauber Saringas und tödliche Viren abwerfen lassen wollen, wie Aum-Anhänger später zu Protokoll gaben. Den Hubschrauber hatte der Guru bereits gekauft. Da er wegen
eines andern Vorfalls eine Polizeikontrolle befürchtete, organisierte er kurzfristig den Sarinanschlag.
Rückblickend ist nur schwer verständlich, weshalb Shoko Asahara jahrelang ungehindert seinen Terror ausüben konnte. Was sich im Umfeld der Aum-Sekte abspielte, ist derart gravierend, dass Polizei und Justiz längst auf die Sekte hätten aufmerksam werden müssen. Über 50 Sektenanhänger galten als vermisst, doch die Beamten ignorierten die Hilferufe der verzweifelten Angehörigen.
Die Untersuchungen nach dem Anschlag in Tokio ergaben, dass mehr als 30 Abtrünnige und Angehörige von Kultanhängern, die sich gegen Asahara zu wehren begannen, ermordet wurden. 20 weitere Sektenmitglieder blieben unauffindbar. Nachdem die Polizei in den Sektenzentren Säurefässer und große Mikrowellenöfen gefunden hatte, stellte sie die Suche nach den Vermissten ein: Sie wusste, dass sie keine Überreste mehr finden würde.
Der Guru fühlte sich zu höheren Aufgaben bestimmt
Shoko Asahara fühlte sich schon als Kind zu Höherem berufen und wollte Politiker werden. Doch er schaffte es nicht einmal zum Klassensprecher. Sein Leben lang glaubte er, verkannt zu werden. Besonders gekränkt war der rhetorisch gewandte junge Mann, als er die Aufnahme in eine Tokioter Universität nicht schaffte. Er eröffnete eine Praxis für alternativmedizinische Therapien und baute eine Yogaschule auf. Richtig aufwärts ging es aber erst 1987, als er den Kult Aum Shinri Kyo (»Religion der höchsten Wahrheit«) gründete. Er zimmerte eine eigenwillige Heilslehre zusammen, die aus teilweise widersprüchlichen Elementen bestand: Asahara mixte buddhistische, hinduistische und christliche Versatzstücke und reicherte sie mit esoterischen Elementen an. Er glaubte, erleuchtet und die Wiedergeburt des
hinduistischen Gottes Shiva zu sein. Es gelang ihm, viele gebildete Anhänger um sich zu scharen. Diesen machte er weis, in einer Vision sei ihm verheißen worden, er müsse das Shamballa-Reich des tibetischen Buddhismus wieder errichten.
Diese »höhere Aufgabe« sicherte ihm vermeintlich eine besondere Bedeutung in der Heilsgeschichte der Menschheit. Er wählte einen asketischen Lebensstil und propagierte eine strenge Karmatheorie. Triebverzicht, Leiden und Yogaübungen sollten kosmische Energien wecken und die Anhänger zum höheren Selbst führen. Die auf materialistische Zielvorstellungen konditionierte Welt war für den Guru dekadent. Er forderte in seinen Büchern, die teilweise große Auflagen erreichten, eine Umkehr und die Konzentration auf spirituelle Ziele. Ende der 1980er-Jahre träumte er davon, Japan zu einem mystisch gesegneten Reich, dem irdischen Shamballa, zu machen und anschließend das Heil in die übrige Welt zu tragen – notfalls mit Gewalt.
Wer in den Kult aufgenommen werden wollte, musste Aum das gesamte Vermögen vermachen. Mit dem Geld baute er erfolgreich ein Wirtschaftsimperium auf. Asahara expandierte ins Ausland und fand vor allem in Russland viele Anhänger. Im Februar 1990
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