Im Bann des Mondes
zitternd Luft und öffnete ihren Umhang. Sie schluckte. »Ich möchte, dass du dir etwas ansiehst. In beruflicher Funktion«, fügte sie hinzu, als Archer sie mit großen Augen anstarrte.
Seine Miene wurde zu Stein, und sie wusste, dass er sich bewusst innerlich verhärtete … genau wie sie es auch gewillt war zu tun. Als er sprach, klang seine Stimme ruhig und gebieterisch. »Lass uns in meine Bibliothek gehen.«
35
»Was liest du da?«, fragte Daisy einen schweigsamen, mürrischen Northrup, der ein kleines, in Leder gebundenes Notizbuch durchblätterte. Sie saßen an einem Ecktisch im
Plough and Harrow
, wo sie eingekehrt waren, um zu Abend zu essen.
Wenn er sich in dieser Stimmung befand, konnte sie von ihm nicht als Ian denken. Nicht wenn er wie ein Fremder vor sich hin brütete. Schon bald nach ihrer Rückkehr aus Archer House hatte Ians Verhalten sich verändert, und zwar so vollständig, als hätte er sich neue Sachen angezogen. Sie brachte nicht den Mut auf, ihm zu sagen, was sie für nötig erachtete.
Wenn es sein musste, konnte Ian zwar höflich und aufmerksam sein, doch jetzt wirkte er distanziert, wich ihrem Blick aus und war zappelig, als fühlte er sich nicht wohl in seiner Haut. Er hatte vorgeschlagen, außer Haus essen zu gehen. ›Außer Haus‹ bedeutete unter Menschen, wo keine Zweisamkeit und das Schlafzimmer drohten, dachte sie bitter.
Sie schluckte den schmerzhaften Kloß in ihrem Hals herunter. Bedauerte er es, ihr einen Antrag gemacht zu haben? Vielleicht war das auch besser so. Sie musste ihm sagen, dass … Entsetzen stieg so schnell und kalt in ihr auf, dass ihr der Atem stockte. Ihre Fäuste pressten sich auf die zerkratzte Tischplatte aus Holz.
»Nun?«, würgte sie hervor, nur um zu sprechen und nicht in Tränen auszubrechen. Später. Sie würde später über die Zukunft nachdenken. »Antwortest du mir jetzt? Was hast du da?«
Northrup zog die Schultern so weit hoch, wie es sein perfekt geschnittener Gehrock zuließ. »Winston Lane’s Notizbuch.«
»Ian! Du kannst doch nicht einfach Winstons Notizbuch stehlen.«
Er zog die Augenbrauen zusammen, während er las. »Es scheint so, als ob ich kann und es auch getan habe, Liebes.« Er trommelte mit den Fingern der einen Hand auf die Tischplatte, während sich seine Miene immer mehr verfinsterte.
»Es ist unmoralisch, einen Kranken zu bestehlen.«
Er gab einen Laut von sich, ohne jedoch aufzusehen. »Genauso unmoralisch ist es, den Angreifer davonkommen zu lassen. Ich würde meinen, dass in diesem Fall der Zweck die Mittel heiligt.«
»Blödsinn.« Daisy ließ sich so schwungvoll nach hinten gegen die Lehne fallen, dass der Stuhl ein Stück nach hinten rutschte. Das fröhliche Gelächter der Trinkenden und der warme Duft guten Essens umgaben sie. Normalerweise war die Wirtschaft, in der sie regelmäßig einkehrte, Balsam für ihre Nerven. Doch heute Abend verstärkte sich ihre Sorge und Unruhe nur noch. Sie deutete auf das zerfledderte Notizbuch.
»Was hat denn gerade deine ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich gezogen? Können wir vielleicht damit anfangen?«
Daisy glaubte keinen Moment lang, dass es der Inhalt dieses Büchleins war, der ihn in seine gegenwärtige Stimmung versetzt hatte. Sondern sie. Unterschiedliche Empfindungen spiegelten sich auf seinem Gesicht wider, während sie sich über den Tisch hinweg ansahen. Angst, Sehnsucht und Hilflosigkeit flackerten in seinem Blick. Seine Knöchel hoben sich schneeweiß vom dunklen Holz der Tischplatte ab. So sehr sie sich auch danach sehnte, ihre Hand auf seine zu legen, nahm sie doch davon Abstand. Nicht wenn sie instinktiv wusste, dass sie der Grund für seinen Zustand war.
Schließlich senkte er den Blick und stieß einen langen Seufzer aus. »Lane ist vor dem Haus des Parfümeurs angegriffen worden. Man fand Lanes Assistenten, John Sheridan, dort. Laut dieser Aufzeichnungen hatte Lane herausgefunden, dass der Parfümeur – ein gewisser Mr Ned Montgomery – zufälligerweise der heimliche Verlobte von Miss Mary Fenn war … dem ersten Opfer des Werwolfs, von dem wir Kenntnis haben.«
»Oh, dann ist also der Parfümeur unser Mörder.«
»Nein. Er ist höchstwahrscheinlich der Bursche, den wir in dieser Bruchbude gefunden hatten.«
Daisy unterdrückte ein ärgerliches Schnauben. »Was du mir da erzählst, ergibt nicht sonderlich viel Sinn.«
»Vielleicht tut es das ja, wenn du mich weiter erklären lassen würdest.« Northrup ignorierte ihren wütenden Blick, aber sie
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