Im Bann des Mondes
Werwolf knurrte und sich auf sie zubewegte. Eine Woge aus Kraft und Energie stieg in Daisy auf und strömte von ihrem Bauch bis in ihre Fingerspitzen. Die Erde bebte kurz, dann zerriss das laute Knacken wachsender Rosensträucher die Stille.
Daisy bebte innerlich.
Schneller. Mehr
. Die harten, dornigen Zweige wuchsen in die Höhe und zur Seite und schufen eine Mauer um sie herum. Der Werwolf ging zum Angriff über und rannte so schnell, dass Daisy der Atem stockte. Durch den Aufprall brachen die Zweige. Rasiermesserscharfe Krallen hieben auf das Gestrüpp ein und zerfetzten es.
Furcht erfasste sie, und ihre Kraft versiegte. Die Rosenstöcke stockten.
Mehr. Stärker. Konzentrier dich
.
Dornen und Zweige schlangen sich fest um die Glieder des Werwolfs und hielten ihn fest, ohne ihn jedoch aufhalten zu können. Er befreite erst eine Vorderhand, dann die zweite. Die Augen des Wolfs ruhten auf ihr und in ihnen schimmerte ein Versprechen. Mit hämmerndem Herzen wich Daisy zurück. Vor Furcht war ihre Kehle wie zugeschnürt. Verzweifelt rief sie wieder dieses Gefühl in ihrem Innern hervor, und die Rosenäste fuhren aus, um sich immer wieder um den Werwolf zu schlingen. Doch es genügte nicht. Mit einem markerschütternden Schrei wand sich die Bestie, und die Zweige brachen wie Glas.
Daisy taumelte zurück, und ihre Kraft verpuffte wie der flackernde Docht einer Lampe. Der Werwolf blieb stehen und legte den Kopf schief, als wäre er verwirrt. Daisy biss die Zähne so fest zusammen, dass es wehtat. Dann zwang sie sich, sich wieder zu entspannen, während sie versuchte, das Blut, das das Fell des Werwolfs bedeckte, zu ignorieren. Talents Blut. Sie konnte sich vor lauter Furcht nicht mehr von der Stelle rühren.
Der Werwolf humpelte auf sie zu. Wegen seines Buckels war eine Vorderhand kürzer als die andere. Der Lichtschein aus dem Haus fiel auf sein struppiges Fell, sodass man die offenen Stellen und die Wunden sehen konnte, die die Dornen gerissen hatten. Auf einmal hätte sie am liebsten geweint. So sah auch ihre Zukunft aus. So leidend und deformiert.
»Du hast Schmerzen, nicht wahr?«
Winselnd blieb der Werwolf stehen und verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere. Grenzenlose Qual sprach aus seinem Blick.
»Es tut mir leid«, wisperte sie. Ihre Stimme klang dünn.
Er senkte den Kopf, stieß aber gleichzeitig ein tiefes Knurren aus. Blitzartig schnappte er nach ihr.
Ihre Finger verkrampften sich. Ian. Sie wollte Ian.
Bitte, lass ihn auf dem Weg hierher sein.
»Lass dir helfen. Ich möchte dir helfen.«
Er winselte wieder, und der riesige Kopf schwankte, als er sich hinkauerte.
Ich habe Schmerzen
.
Ich habe solche Schmerzen.
Daisys Herz setzte einen Schlag lang aus, denn sie konnte die Worte deutlich in ihrem Kopf hören. Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.
»Lass mich mit dem Mann sprechen.«
Der Wolf bebte am ganzen Körper und stieß einen klagenden Laut aus.
»Den Mann« sagte sie. »Lass ihn heraus, dann kann ich euch beiden helfen.«
Der Wolf seufzte, und sein Kopf sank nach unten. Das Knirschen und Knacken der Knochen hallte laut durch die Nacht, als er sich verwandelte, und dann hockte ein Mann vor Daisy.
Der nackte, verdrehte Körper – denn in seiner menschlichen Gestalt war er nicht weniger verunstaltet – sank auf dem Marmor zusammen. Zitternd lag er da. Die wunden Stellen auf seiner Haut waren geschwollen und nässten. Die Krankheit hatte den Mann zerstört, Körper und Geist vernichtet. Sie hatte plötzlich Angst, ihr könnte gleich schlecht werden.
Eine knotige Hand glitt zu dem riesigen Geschwür, das den Kopf so deformiert hatte, dass das Gesicht kaum noch als das eines Menschen erkennbar war. Er stieß einen mitleiderregenden Schrei aus. »Töte mich«, krächzte er. Trüb blickende Augen sahen zu ihr auf. »Ich so kann nicht leben …«
Das Herz drohte Daisy aus der Brust zu springen. »Ich kann nicht …«
Er knurrte und schlug sich mit der Faust gegen den Kopf. »Töte mich. Töte mich.« Er heulte, sein Körper schaukelte hin und her. »Der Schmerz. Er ist zu groß.«
Würde jemand Mitleid mit ihr haben, wenn es sie war, die litt? Verdiente er nicht ihr Mitgefühl? Sie schluchzte auf. »Lass mich jemanden holen, der dir hilft.«
Seine Stimme wurde ganz schwach, der Blick seiner Augen verzweifelt, als er sie ansah. »Du. Ich will, dass du es tust. Bitte …« Stöhnend rollte er sich zusammen. »Bitte, Lucy. Ich habe mich so sehr bemüht, dich zu
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