Im Bann des Mondes
Mensch, der eine stolze Haltung an den Tag legte, die weit über seinen Stand hinausging, und gleichzeitig das Verhalten eines Mannes ausstrahlte, der schon lange an Bürokratie gewöhnt war. Wäre Lane von höherer Geburt gewesen, hätte er bestimmt fürs Parlament kandidiert. Doch trotz seines niederen Standes genügte ein Blick von ihm, und Poole fing an sich zu winden.
»Ich bin mir sicher, dass Lord Northrup und Lord Archer eine nachvollziehbare Erklärung für ihre Anwesenheit hier haben«, fuhr Lane mit sanfter Stimme fort. »Was Ihre fantasievollen Ausflüchte mir gegenüber angeht, Poole … darüber werden wir später reden.«
Poole brummte etwas Unverständliches und mied Lanes Blick. Wie es aussah, wartete Lane darauf, dass einer der Anwesenden seine Sünden gestand. Archer starrte den Mann jedoch nur an. Eine gute Taktik, weil Archers Starren ziemlich wirkungsvoll war. Doch Ian hasste es, wenn das Schweigen sich in die Länge zog. »Ich hoffe, dass Sie gern warten, Inspektor, da Sie jetzt in den ausgiebigen Genuss davon kommen werden.«
Lane lächelte höflich. »Geduld ist eine höchst wertvolle Tugend für einen Inspektor.« Er klopfte seine Pfeife an seiner Stiefelsohle aus, sodass Funken durch die Luft flogen und der würzige Duft von Tabak aufstieg. »Jetzt, wo wir alle da sind, sollten wir zur Tat schreiten.«
»Sicher?«, fragte Ian. »Keiner mehr, der kommt? Keine Ehefrauen? Der Schuhputzer? Vielleicht der Brötchenverkäufer, den ich auf dem Weg hierher getroffen habe?«
Die einzige Antwort bestand aus Pooles ziemlich schockierender Handbewegung, zu der Ian lieber nichts sagen wollte.
Poole zog ein Bund mit einigen großen Schlüsseln hervor. Die Tür ging ohne Widerstand auf, und Poole betrat das Gebäude, wobei seine eben noch nervöse Miene der kühler Professionalität wich.
Ian folgte ihm und verfluchte die feuchte Kälte in seinem Nacken. Der schmale, in Behördengrün gestrichene Gang wurde von gerade mal zwei Lampen erhellt. Als sie um die nächste Ecke bogen, nahm der überall herrschende süßliche Geruch eine deutlich erkennbare schwefelartige Note an.
»Der Aufschub kostet mich zwanzig Pfund.« Pooles Kopf mit dem sandfarbenen Haar hüpfte im grünlichen Licht auf und ab. »Die Familie Fenn wollte, dass die Beerdigung heute stattfindet. Heute. Ich musste dem Koroner sagen, ich hätte den Leichnam an die falsche Adresse geschickt, um mehr Zeit herauszuschinden. Das ist natürlich Blödsinn, und der Koroner weiß das ganz genau. Außerdem habe ich in meinem ganzen Leben noch nie eine Leiche verlegt.« Er warf Lane einen Blick zu. »Und dafür sind diese beiden hier verantwortlich.« Mit dem Daumen zeigte er auf Archer und Ian. »Können Sie mir vielleicht erklären, was ein Mann wie ich tun soll, wenn ihm ein Marquis und ein Baron im Nacken sitzen?«
»Den leitenden Inspektor informieren?«, schlug Lane höflich vor.
Ian ließ Poole schimpfen. Er wusste, dass der Mann ihm nicht wegen des Geldes half, sondern weil Ian in einer finsteren Nacht zwischen ihn und die Spitze eines bösartigen Messers getreten war, das einem Straßenräuber gehörte. So etwas vergaß ein Henry Poole nicht. Er war ein loyaler Mann. Wie die Verpflichtung Archer gegenüber aussah, wusste Ian nicht. Und es war ihm auch egal.
Der kleine Chirurg blieb vor einer dicken Eisentür stehen. Ian drehte sich fast der Magen um.
»Sie haben den Bericht gelesen?«, fragte Poole ihn.
Ian zwang sich zu einem Nicken. Hinter ihm schnaubte Lane voller Widerwillen. »Sie haben ihm tatsächlich den offiziellen Bericht zukommen lassen?«
Poole tat so, als hätte er nichts gehört, während er sie in den Raum führte und die Tür klirrend schloss. »Mehr kann ich Ihnen im Grunde nicht erzählen. Deshalb verschaffen Sie sich am besten selbst ein Bild.«
Verglichen mit dem Flur war es im Untersuchungsraum so hell, als würde die Sonne hoch am Himmel stehen, und peinlich sauber. Das Blut war längst im Abfluss des gefliesten Bodens verschwunden. Dieser Raum war Pooles ganzer Stolz. Die Männer ließen sich von Poole schwere Lederschürzen geben und folgten ihm die lange Reihe von Tischen entlang, auf denen in der Mitte des Raumes die Leichen lagen. Alles war in strahlendes Sonnenlicht getaucht, welches durch die Oberlichter fiel. Für zusätzliche Helligkeit sorgten vier große Gaslampen, sodass die ganze Szenerie seltsam friedlich wirkte … wäre da nicht der Gestank gewesen.
Als Poole anfing, sein Handwerkszeug
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