Im Bann des Mondes
Schaudern ging durch ihren Körper. »Er ist völlig entstellt, verkrüppelt.«
Syphilis. Eine Geschlechtskrankheit. Winston würde das Gehalt der nächsten Woche darauf wetten, dass Miss Lucy Montgomery jetzt an der gleichen Krankheit litt.
Das Mädchen rückte etwas näher. »Eigentlich hatten wir alle angefangen, uns zu fragen, ob er überhaupt noch am Leben ist, Sir.«
»Ach ja?«
»Aber vor ein paar Nächten, kurz bevor Lord Ranulf aus Schottland zurückkehrte, fuhr eine große Karosse vor, und man hat den Gast zusammengeschnürt hineinverfrachtet. Um aufs Land zu ziehen, sagen Mrs Armitage und Mr Timms, der Butler. Nur dass dieser Mensch einen heftigen Anfall bekam, bei dem er aus der Kutsche stürzte und davonrannte. Keiner hat ihn zurückkehren sehen.«
Winston reichte dem Dienstmädchen seine Karte. »Geben Sie die Mr Timms. Ich möchte jetzt mit ihm und Mrs Armitage reden, wenn sie einen Moment Zeit haben.« Auch wenn das nicht der Fall war, würde er trotzdem mit ihnen reden.
Das Dienstmädchen sah die Karte an, als wäre sie vergiftet. Schnell fuhr sie sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Sir …« Ein Geräusch aus dem Innern des Hauses ließ sie zusammenzucken, und sie fing plötzlich an, schneller zu atmen. Als sie sprach, sprudelten die Worte nur so aus ihrem Mund. »Sie werden Ihnen keine Antworten geben. Keine wahren. Das ist nicht erlaubt.«
»Nicht einmal der Polizei?«
Auf ihrer Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet. »Vor allem nicht der Polizei.« Sie sah über die Schulter und verkrampfte sich. »Ich muss jetzt gehen.«
Er wollte sie weiter bedrängen, wusste aber, dass es nutzlos wäre. Doch es führten viele Wege nach Rom, wie seine Vorgesetzten gerne sagten. Er wollte gerade sein Notizbuch wegstecken, als er innehielt, weil ihm plötzlich aufging, was das Dienstmädchen ganz am Anfang gesagt hatte. »Verzeihung, aber Sie erwähnten vorhin, Sie hätten das alles schon einmal erzählt?«
»Ja.« Sie nickte energisch, sodass ihre Haube drohte herunterzufallen. »Dem Gentleman, der gerade da war.« Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Wenn ich es mir genau überlege, sagte er auch, er wäre von der Polizei.« Sie schüttelte den Kopf, als hätte sie Mitleid. »Man sollte die Aufgaben bei der Polizei wirklich besser verteilen, meinen Sie nicht auch?«
19
Als das Licht der Sonne die scharfen Kanten erklomm, die Londons Horizont bildeten, ging Ian nach unten zum Frühstück. Daisys Atemzüge hatten sich leicht beschleunigt, woran er erkannte, dass sie bald aufwachen würde. Er wollte nicht, dass sie ihn vor ihrer Tür fand, wo er die restliche Nacht über sie gewacht hatte. Sie zog sich ohnehin schon vor ihm zurück. Er machte ihr keinen Vorwurf daraus, aber angesichts der Tatsache, dass sie beide beinahe von einem Werwolf getötet worden waren, musste er eine Möglichkeit finden, dafür zu sorgen, dass sie bei ihm blieb. Dieses verdammte, sture Weib würde ihm wahrscheinlich in jeder Hinsicht Widerstand leisten.
So sehr er es auch versuchte, konnte er doch nicht die Erinnerung an den Ausdruck in Daisys Augen verdrängen, als er letzte Nacht wieder zu sich gekommen war. Stöhnend ließ Ian den Kopf in die Hände sinken und schauderte. Himmel, er hatte die Kontrolle über sich verloren. Er konnte nicht allein dem Gift die Schuld dafür geben. Er hatte ihre Angst gespürt. Zusammen mit dem sinnlichen Duft ihres Fleisches war das unwiderstehlich gewesen.
»Oh Gott.« Er schluckte mehrmals und hatte Angst, ihm könnte gleich schlecht werden. Seine Hände zitterten nicht, als er sie ansah, doch innerlich bebte er. Er hatte gesehen, wie sich seine Hände während des Kampfes mit dem Werwolf veränderten. Alles war viel zu weit gegangen. Die Nägel hatten sich in lange, gefährliche Krallen verwandelt, die Knochen hatten sich verformt und Fell hatte angefangen, seine Haut zu überziehen.
Kontrolle. Das war der Fluch der Lykaner. All diese Kraft, die in einem steckte, und doch der ständige Kampf, den Wolf in Schach zu halten. Letzte Nacht war ihm das nicht gelungen. Seine Wut über den Werwolf und sein Verlangen zu berühren, was er eigentlich nicht berühren sollte, waren zu groß gewesen.
Daisy. Sie hatte ihn angestarrt, als wäre er ein Monster. Und sie hatte recht. In seiner Jugend hatte er in seinem Wolf geschwelgt und es so weit kommen lassen, dass sie fast eins waren. Ein Spiel mit dem Feuer. So viel Kraft und Ungestüm. Ian sah seine Hände an. Je länger er sich in
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