Im Bann des Nebels, 2, Der ewige Bund (German Edition)
Zwar hielt sie es für unwahrscheinlich, dass eine hastige Bewegung die Birjaks erschrecken könnte, aber sie wollte lieber kein Risiko eingehen. Keins der Tiere schaute auch nur zu ihr hin, als sie vorsichtig aufstand und sich umsah.
Sie befand sich am Rand eines Tals, weit wie eine Schale, deren Seiten sanft anstiegen. Wolkenberge zogen über den blauen Himmel. Ein Stück entfernt glitzerte Wasser; vielleicht ein Fluss oder ein See. Irgendwo zwitscherten Vögel, Insekten summten und zirpten, Wind strich über das Gras, in dem Tausende von kleinen gelben Blumen wuchsen. Ganz vereinzelt standen Bäume mit ausladenden Kronen, dazwischen hier und da ein paar Felsbrocken, dunkle Tupfer in all dem Grün und Gold und Blau. Es gab keine Berge, nichts, was auf die Schlucht hindeutete, in der sie die Ziegenleute gefunden und Nachtfrost verloren hatte. Falls das überhaupt eine wirkliche Schlucht gewesen war; ganz am Schluss musste sie ein Teil des Nebelbrückenzaubers gewesen sein. Sonja fröstelte unwillkürlich.
Gibt es hier Dämonen?
Ja. Halt dich fest.
Hätte sie sich auch festhalten sollen, als Nachtfrost sich zu dem Dämon umgedreht hatte? Hätte sie ihm helfen können – vielleicht mit dem Amulett? Aber nein – er hatte sie a bgeworfen. Sie war oft genug von Pferderücken heruntergefallen, um einen einfachen Sturz von einem Abwurf unterscheiden zu können.
Was sollte sie jetzt tun? Warten, bis Nachtfrost zurückkam? Dies hier musste der einsamste und menschenleerste Ort der Welt sein; wovon sollte sie leben, wenn es länger dauerte? Gras konnte sie wohl kaum essen. Sie erinnerte sich, dass sie sich im Winter gewünscht hatte, Parva im Frühling zu sehen – aber nicht allein. Sie kannte die Pflanzen nicht, sie wusste nicht, welche davon essbar und welche giftig waren, sie würde gefährliche Tiere erst bemerken, wenn es zu spät war, und es gab in dieser Welt Geister und Zwischenwesen, die gefährlicher waren als wilde Tiere und die sie nicht einmal erkennen würde, bis es zu spät war. Sie konnte kein Feuer machen, und sie hatte keine Waffe … doch, sie hatte eine! In einer Lederscheide an einem schmalen Band um ihre Hüften hing ihr Messer, das sie von Asarié bekommen hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, es mitgenommen zu haben – ganz sicher hatte sie es während des Pferderennens und auf Gut Stettenbach nicht gehabt. Sie zog es aus der Scheide und schaute es an. Die Magie des Landes musste es ihr gegeben haben – so, wie sie auch bei jeder Reise die Sprache der Bewohner von Parva verstand. Es war ein nicht geringer Trost – immerhin bedeutete es, dass sie nicht ganz vergessen worden war. Irgendjemand oder irgendetwas hatte dafür gesorgt, dass sie ihr Messer bei sich hatte. Es gab noch immer eine Absicht hinter allem.
Sie schob das Messer wieder in die Scheide. Wahrscheinlich war es unbescheiden, sich auch einen warmen Pullover, eine Straße, ein Ziel und Nachtfrost herbeizuwünschen.
Sie tat es trotzdem und war nicht überrascht, als nichts ge s chah. Vielleicht wachte die Göttin Aruna wirklich über sie, aber ein Schlaraffenland spendierte sie ihr nicht, und –
Plötzlich durchzuckte es sie wie ein Blitz. Das Amulett! Sie konnte das Wolfskopfamulett benutzen! Es hatte ihr schon einmal geholfen, Nachtfrost wiederzufinden! Warum hatte sie nicht früher daran gedacht? Da lief sie seit Monaten mit einem magischen Amulett herum und benutzte es nicht! Ihre Finger zitterten, als sie das Amulett an seiner Kette über den Kopf zog und die Hand ausstreckte. Beim ersten Versuch hatte sie nicht an Magie geglaubt, und Darian hatte ihr versichert, dass es darauf auch gar nicht ankam. Wichtig war nur, wie sehr sie sich wünschte, Nachtfrost wiederzufinden. Und an diesem Wunsch konnte auch das kritischste Amulett nicht zweifeln. Sie wünschte es sich so sehr, dass es fast schmerzte – so sehr, dass eigentlich allein die Sehnsucht das Tor zur Nebelbrücke hätte öffnen müssen.
Sie schloss die Augen, streckte die Hand mit dem Amulett aus und drehte sich langsam im Kreis. Und sie stellte sich Nachtfrost vor: groß und schwarz, mit Sternen im Fell, Mähne und Schweif wie silbernes Feuer, die Augen sanft und dunkel, das edelste und schönste Tier aller Welten. Sie sah ihn vor sich, wie er über Asariés Weide trabte, wie er über die Steppe flog, wie er anhielt und sich aufbäumte und dann zu ihr trabte … und sie riss die Augen auf, weil sie wusste, dass er da war und zu ihr kam und …
Da war nichts.
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