Im Bann des roten Mondes
Geister der Ahnen, die Tuareg ihr zürnten. Sie hätte es niemals tun dürfen!
Aber es war zu spät. Sie fragte sich noch, warum sie nur einen Augenblick daran gedacht hatte, ihr schönes, sicheres, bequemes Heim in Paris gegen die Härte, Entbehrungen und Unwägbarkeiten der Wüste einzutauschen. Warum sollte sie das lieben, was sie doch so unbarmherzig strafte?
Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass sich der Sturm noch steigern könnte. Das ohrenbetäubende Brüllen dröhnte in ihrem Kopf und wollte ihn schier platzen lassen. Sie drückte die Hände mit aller Kraft gegen die Schläfen. Der Sturm zerrte an ihren Gewändern, rüttelte und presste sie mit einer Angst einflößenden Gewalt. Wenn sie starb, würden ihre Augen nicht als Letztes den glutroten Sonnenuntergang sehen. Sie würden gar nichts mehr sehen, verklebt und zerstochen vom schneidenden Wüstensand. Sie würde nur dieses grässliche Geräusch mit hinübernehmen in die andere Welt, dieses Dröhnen und Brüllen.
Sand häufte sich über ihnen auf. Wahrscheinlich war das Dromedar schon längst erstickt, und auch sie würden alle unter dem Sand begraben werden. Nichts würde daran erinnern, dass hier eine kleine Karawane lagerte, die zu einer großartigen Rettungsaktion aufgebrochen war. Irgendwann, eines Tages, würde der Wind die bleichen Knochen wieder freiwehen. Doch niemand würde sie finden, weil niemand so verrückt war, in diesen Winkel der Erde zu kommen.
Für einen Moment kam ihr die ganze Tragweite zu Bewusstsein, was es bedeutete, in dieser Wüste zu leben wie die Tuareg. Ja, sie mussten so leben, wie sie lebten, um zu überleben. Alles andere war nur der Hochmut einer angeblich überlegenen Zivilisation.
Sie beugte den Kopf noch tiefer und hörte auf zu denken und zu beten. Sie würde in Arkanis Armen sterben. Und plötzlich breitete sich in ihr tiefer Frieden aus.
Der Sturm verebbte so plötzlich, wie er begonnen hatte. Désirée bemerkte es nicht mehr, ihr Geist hatte sich bereits auf die Wanderschaft in das dunkle Nichts begeben.
Etwas bewegte sich neben ihr. Der Druck auf ihren Körper nahm ab. Stimmen erklangen, weit weg und unverständlich. Dann wurde es wieder still. Auf einmal war eine unerträgliche Helle um sie herum und jemand schlug ihr unsanft ins Gesicht.
Es empörte sie, dass sie geschlagen wurde, obwohl sie doch schon tot war. Oder nicht? Ihre Hände tasteten um sie herum, fühlten Sand, Sand, nichts als Sand und dann Stoff.
» Aman «, hörte sie einen erregten Ruf. » Aman !« Das hieß Wasser!
Dann spürte sie etwas Schmerzhaftes auf ihren Lippen.
»Aua, aua«, wimmerte sie. Etwas Feuchtes benetzte auch ihre Augen. Mühsam versuchte sie sie zu öffnen. Sie waren zugeschwollen und brannten fürchterlich.
»Es ist alles vorbei.« Arkanis sanfte Stimme beruhigte sie. Trotzdem konnte sie nichts sehen. Ein eisiger Schreck durchfuhr sie, erblindet zu sein. Dann schon lieber tot.
Eine starke Hand schob sich unter ihren Rücken und richtete sie auf. Neben ihr brummte ein Dromedar unwillig.
»Was ist los?«, wollte sie wissen und krallte sich an Arkanis Gandura fest.
»Der Sturm ist vorbei. Und alle leben noch.« Sie lauschte seiner Stimme nach.
»Ich nicht«, sagte sie. »Ich fühle mich wie gestorben.«
Wieder fühlte sie etwas Feuchtes im Gesicht. Gierig streckte sie die Zunge danach aus. Arkani flößte ihr Wasser ein. Es schmeckte nach Leder und war sehr warm, aber es war flüssig.
»Wir werden heute nicht weiterreiten können«, hörte sie wieder Arkanis Stimme. »Der Sturm hat uns aufgehalten. Es ist bald Abend.«
»So lange?«, flüsterte sie schwach. Der Sturm hatte einen ganzen Tag gedauert! Sie hatte auch keine Kraft mehr, überhaupt keine Kraft.
Die Männer kümmerten sich zunächst um die Meharis, prüften, ob sie verletzt waren und reinigten ihnen Augen und Nüstern. Erst dann suchten sie im Sand nach dem Gepäck, trugen die Sättel zusammen und kontrollierten das Zaumzeug.
Arkani beriet sich kurz mit den Männern. Dann entfachten sie ein kleines Feuer, um Tee zu kochen.
Es war noch hell, die Sonne stand irgendwo hinter dem Sandschleier am Himmel. Es war drückend heiß. Langsam gewöhnten sich Désirées Augen an das Licht. Doch bei jedem Lidschlag kratzte es, als hätte sie immer noch Sand darin. Sie wickelte sich den Schleier fest ums Gesicht, nachdem sie ihn ausgeschüttelt hatte. Unter seinem Schutz wurde der Schmerz erträglicher. An einen Kamelsattel gelehnt, blieb sie sitzen und
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