Im Bann des roten Mondes
bohrt sich in dein Gehirn, sie reißt dir die Seele aus dem Leib. Sie macht dich wahnsinnig, Ja, ich bin wahnsinnig. Das siehst du doch, oder?« Er sprang wie ein Affe auf dem Ast hin und her. »Es ist niemand mehr da. Sie sind alle tot. Tot! Ich habe sie begraben. Die Wüste hat sie sich genommen. Was für eine Verschwendung!«
Désirée stand wie versteinert. Eine eiskalte Hand legte sich um ihr Herz. Nur ganz langsam begriff sie, was geschehen war. Nein, sie wollte es nicht wahrhaben. Sie musste versuchen, ihn wieder zur Vernunft zu bringen. Er war krank. Er war halb verrückt. Wer würde das nicht werden in dieser Situation? Aber es gab einen Ausweg.
»Vater, ich habe dich gesucht. Ich habe befürchtet, dass etwas schief gehen würde. Deshalb bin ich hier. Ich habe Freunde unter den Tuareg, die haben mich begleitet. Wir haben Wasser, zu essen, Kamele. Wir können sofort diesen schrecklichen Ort verlassen. Du brauchst bloß von diesem Baum herunterzukommen. Niemand will dir etwas zuleide tun. Es gibt keine Geister hier. Es ist nur der Wind.«
»Überall sind Geister«, schrie er und fuchtelte mit dem Gewehr herum. »Du bist einer, ich bin einer.« Dann ließ er wieder sein grausiges Lachen ertönen. Désirée erschauerte.
»Du bist Etienne Montespan, ein großer Gelehrter. Archäologe, Professor an der Sorbonne. Und du bist mein Vater.«
»Etienne Montespan?«, fragte er und verdrehte seltsam den Kopf. »Den kenne ich nicht. Den gibt es nicht. Etienne Montespan ist tot. Mausetot. Ich habe ihn umgebracht. Ich habe sie alle umgebracht. Nun liegen sie im Sand. Mausetot. Und du bist auch bald tot. Es ist ein böser Ort. Warum bist du gekommen? Du kannst mich nicht holen. Du wirst mich nicht bekommen. Einen Geist kann man nicht töten. Er fliegt davon, einfach so. Hui! Und du kannst auf ihn schießen, aber er ist schon fort. Hui!«
Langsam, Schritt für Schritt, setzte Désirée einen Fuß vor den anderen, ihre Augen starr auf ihren Vater gerichtet. »Vater, alles wird gut. Gib mir deine Hand. Leg das Gewehr weg.«
Er lachte wieder, hantierte mit dem Gewehr.
Arkani setzte zum Sprung an. In dem Moment knallte ein Schuss. Der Körper des Alten krümmte sich zusammen und fiel wie ein Sack vom Ast, direkt vor Désirées Beine. Das Gewehr hielt er noch immer umklammert. In seiner Stirn klaffte ein Loch.
Désirée starrte darauf, ohne es zu begreifen. Plötzlich begann sie zu schreien. »Nein, nein, nein! Vater, nein! Oh nein, bitte nicht!« Dann sank sie schluchzend über seinem leblosen Körper zusammen.
Arkani wusste, dass Trauer eine ganz persönliche Angelegenheit war. Immer fielen Krieger, immer starben Menschen. Es gab Rituale, nach denen sie zu beerdigen waren. Es gab den aneslem , den Korangelehrten, der die Gebete sprach. Es gab die Freunde und Verwandten, die das Grab aushoben und die Totenklage anstimmten, es gab die Schmiede, die den Toten wuschen und die Nachricht verkündeten. Aber hier? Er kam sich plötzlich hilflos vor.
Désirée war ganz still geworden. Ihre Tränen waren versiegt, ihr Schmerz war im Herzen begraben. Sie hockte neben ihrem toten Vater, stumm, den Blick starr ins Nichts gerichtet. Nur an ihrem Atem erkannte Arkani, dass sie lebte. So saß sie und spürte die Hitze nicht.
Er blieb hinter ihr sitzen, ebenso stumm, und überließ sie ihrer Art der Trauer. Als sich die Sonne den Felsen zuneigte, erhob er sich und legte sacht seine Hand auf ihre Schulter.
»Wir müssen ihn begraben«, sagte er leise.
Sie nickte unmerklich. Dann hob sie plötzlich den Kopf. »Hier unter diesen Bäumen. Ich glaube, es würde ihm gefallen.«
Langsam erhob sie sich und schaute sich um. Womit sollten sie ein Grab schaufeln? Der Boden war steinig. Es gab nur einige abgestorbene Äste, die auf dem Boden lagen. Und dann begann sie mit den blanken Händen, Steine, Sand und Schotter beiseite zu räumen.
»Warte, ich schau in der Höhle nach, ob ich eine Schaufel oder irgendein Werkzeug finde«, bot sich Arkani an.
Sie schien ihn nicht zu hören, sondern arbeitete verbissen weiter. Er eilte zur Höhle. Es war ein Felsvorsprung, der durch die verwitterte Kamelhaut abgeschirmt wurde. Arkani wollte sie zurückschlagen, doch da fiel sie auf ihn herab. Erschrocken sprang er zurück. Die Furcht in seiner Seele war geblieben. Erschüttert blickte er auf die wenigen Habseligkeiten, die in der Höhe verstreut lagen. Etienne Montespan musste sich hier eine richtige Wohneinrichtung geschaffen haben. Zwei Stühle,
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