Im Bann des Vampirs: Fever Saga 1 (German Edition)
zumachten. Sie lümmelte auf ihrem Bett und kritzelte eifrig. Eines Tages gebe ich es dir zum Lesen, Junior, sagte sie manchmal. Anfangs nannte sie mich Little Mac (in Anspielungauf Big Mac), später ging sie zu Junior über und erklärte: So als wären wir über achtzig und als könntest du keine schlechten Gewohnheiten mehr von mir lernen. Sie lachte und ich lachte mit, weil Alina keine schlechten Gewohnheiten hatte – das wussten wir beide. Ihr Tagebuch war ihre Vertraute, ihre beste Freundin. Sie vertraute ihm Dinge an, über die sie nicht einmal mit mir sprach. Ich weiß das genau, weil ich ihr Tagebuch ein paar Mal gefunden habe. Als ich reifer wurde, hörte ich auf, danach zu suchen, aber Alina versteckte es nach wie vor. Die alten verstaute sie in einer verschließbaren Truhe auf dem Dachboden und sie zog mich damit auf, dass ich das aktuelle Versteck nie und nimmer finden würde.
»O doch, das werde ich«, schwor ich mir jetzt. Ich würde es finden, und wenn ich das ganze Apartment Stück für Stück auseinandernehmen musste. Ich konnte nicht glauben, dass ich nicht schon viel früher darauf gekommen war. Hier in Dublin existierte irgendwo ein detaillierter Bericht von allem, was meine Schwester seit ihrer Ankunft erlebt hatte. Und ganz sicher hatte Alina alles, was es über diesen mysteriösen Mann, mit dem sie sich getroffen hatte, zu wissen gab, aufgeschrieben. Unverständlicherweise hatte ich mich bisher nur auf die Gardai, das Packen und die eigenartigen Dinge, die ich gesehen hatte, konzentriert.
Plötzlich befiel mich Angst … war Alinas Wohnung deshalb so verwüstet worden? Hatte jemand, der mit dem Mord zu tun hatte, gewusst, dass sie Tagebuch führte, und danach gesucht? Was, wenn es zu spät war?
Es hatte schon zu lange gedauert, bis ich auf das Nächstliegende gekommen war. Jetzt wollte ich keine Sekunde mehr verlieren. Ich warf ein paar Geldscheine auf den Tisch, nahm mein Tagebuch und die Handtasche und lief zur Tür.
Es stand einfach nur da – in der Dunkelheit –, als ich um die Ecke lief. Woher hätte ich das ahnen sollen?
Ich lief schnell in meiner Eile, zu Alinas Wohnung zu kommen und das Tagebuch zu suchen. Damit hätte ich endlich einen Beweis in den Händen, dass ein ganz normaler Mensch – wenn auch ein niederträchtiger Mörder –, nicht ein mythisches Ungeheuer meine Schwester auf dem Gewissen hatte. Wenn ich um eine Ecke gebogen wäre und einen Menschen gerammt hätte, hätte ich mich erschrocken. Aber ich prallte auf etwas, was den Grauen Mann harmlos und freundlich aussehen ließ.
Meine Doppelvision dauerte nicht länger als einen Herzschlag – von dem Moment, in dem ich es sah, bis zu dem, in dem ich auftraf.
Ich versuchte auszuweichen, reagierte aber nicht schnell genug und stieß mit der Schulter gegen das Ding, wurde zurück an die Hausmauer geschleudert und landete auf allen vieren auf dem Gehsteig. Benommen blieb ich hocken und starrte entsetzt nach oben. Diese Illusion, die das Wahre verschleiern sollte, war so schwach, dass es mich keinerlei Anstrengung kostete, sie zu durchdringen. Ich fragte mich sogar, ob das Ding überhaupt jemanden täuschen konnte.
Wie der Graue Mann hatte es die meisten Körperteile. Anders als der Graue Mann hatte es jedoch auch noch ein paar zusätzliche. Manche waren zu klein, andere furchterregend überdimensioniert. Der Kopf war riesig, kahl und mit einigen Dutzend Augen ausgestattet. Es hatte mehr Münder, als ich zählen konnte – zumindest hielt ich die feuchten pinkfarbenen Saugnäpfe auf dem missgestalteten Schädel und am Bauch für Münder. Ich sah die scharfen Zähne aufblitzen, weil sich die Blutegeln gleichenden Lippen in dem grauen faltigen Fleisch ständig an- und entspannten. Für mich war das ein Ausdruck von Hunger.Vier dürre Arme ragten aus dem fassförmigen Rumpf, zwei kümmerliche hingen schlaff an den Seiten. Die Beine ähnelten Baumstämmen und das aufgeblähte männliche Geschlechtsorgan war grotesk groß. Um das zu präzisieren: Es hatte die Größe eines Baseballschlägers und reichte bis über die Knie herunter.
Zu meinem Entsetzen musste ich feststellen, dass mich das Ding lüstern betrachtete – all die vielen Augen waren auf mich gerichtet und die Münder grinsten gierig. Und dann griff auch noch eine Hand nach unten und das Scheusal begann, sich selbst zu streicheln!
Ich war außerstande, auch nur einen Muskel zu rühren. Deswegen schäme ich mich heute noch. Man fragt sich immer, wie man
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