Im Bann seiner Küsse
wohlauf ist. Er weiß, wie man auf sich achtet. “ Zweifellos war es das, was man als Mutter sagte, weil man irgendetwas sagen musste, um sie zu beruhigen.
Aber als sie in Katies ernste, erschrockene Augen blickte, wusste sie, dass sie das nicht tun konnte. Sie waren jetzt eine Familie und würden allen Stürmen gemeinsam trotzen. »Ich weiß es nicht. Ich wünschte, ich wüsste es.«
Sie verfielen in Schweigen, jede in ihre eigenen Befürchtungen, ihre eigenen Gedanken vertieft. Tess versuchte sich selbst zu beruhigen, versuchte an die rationale Wissenschaftlerin zu appellieren, die sie ihr Leben lang gewesen war, aber sie schaffte es nicht ganz. Ihre Angst war so groß ...
Fokussieren. Konzentrieren.
Sie atmete tief durch und zählte bis zehn. Jetzt hieß es stark sein. Für Jack, für die Kinder. Er war in Schwierigkeiten, echten Schwierigkeiten, und er brauchte sie. Sie musste in dieser Situation einen klaren Kopf behalten und überlegen, was zu tun war. Wie man ihm helfen konnte.
Sie spürte, wie sie zur Ruhe kam. Sie befand sich auf vertrautem Terrain. Am Anfang eines jeden Projekts hieß es immer Daten sammeln und Fakten ordnen. Ihre Erfahrung hatte sie gelehrt, ein besonders kniffliges Projekt langsam anzugehen und es aus allen Blickwinkeln zu beleuchten, ehe sie sich an die Arbeit machte. Ein falscher Schritt, eine übereilte Folgerung konnten das ganze Experiment gefährden.
Sie warf einen Blick auf ihr Handgelenk. Winzige blaue Druckmale zeichneten sich auf ihrer hellen Haut ab. Die Stellen, wo seine Finger sie gedrückt hatten, schmerzten. Er hatte nicht gewusst, dass er ihr wehtat. Sie war dessen fast sicher. Vermutlich hatte er gar nicht gewusst, dass er sie berührte. Oder dass sie neben ihm stand.
Als sie seinen Namen rief, hatte er verwirrt und desorientiert gewirkt. Und von verzweifelter Angst erfüllt.
Sie war überzeugt, dass Angst der Schlüssel war.
»Wovor hast du Angst, Jack?«, murmelte sie. Ihr war nicht bewusst, dass sie die Frage laut ausgesprochen hatte, bis Savannah ihr die Antwort lieferte.
»Vor lauten Geräuschen, glaube ich.«
Tess' tiefe Konzentration verflog sofort. »Wie bitte?«
»Ich glaube, vor lauten Geräuschen läuft er davon«, sagte Savannah leise. »Donner, Feuerwerkskörper, Regen auf dem Dach, Schüsse. Diese Geräusche machen ihn ... verrückt.«
Tess furchte nachdenklich die Stirn und versuchte die Information zu analysieren. Laute Geräusche ließen ihn die Flucht ergreifen. Und dann?
Wie lange war ich fort?
Tess' Herz schlug rascher. Vor lauten Geräuschen lief er davon und wusste nachher nicht mehr, was er getan hatte oder wie lange er fort gewesen war. Totaler Blackout.
Sie kam der Sache immer näher.
Laute Geräusche. Nacht. Temporäre Amnesie. Wo lag die Verbindung?
»Was ist ein Feigling?«, fragte Katie.
Die Frage überrumpelte Tess. Sie ließ nur widerwillig von dem Rätsel ab und sah Katie an. »Warum fragst du?«
»Du sagst immer, Daddy wäre ein Feigling, und deshalb wäre Johnny tot.«
Diese Anschuldigung war so grausam, dass sie Tess sprachlos machte und sie sich erst wieder fassen musste. Dann legte sie die Arme fester um die zwei Mädchen. »Euer Daddy ist kein Feigling.« »Woher weißt du das?«, fragte Savannah.
Tess lächelte grimmig. »Weil er all die Jahre bei mir geblieben ist. Damit hat er großen Mut bewiesen.«
Katie lächelte und lehnte sich wieder an Tess.
In Gedanken versunken strich Tess dem Kind übers Haar. Wieder verfielen sie in Schweigen. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Katies unschuldige Frage ins Schwarze traf.
Johnny.
Du sagst immer, Daddy sei ein Feigling und deswegen wäre Johnny tot.
Tess richtete sich auf. »Savannah, wer ist Johnny?«
»Daddys Bruder. Er kam im Krieg um. Das weißt du doch.«
Der Krieg. Das Wort erschien Tess wie ein Geschenk des Himmels. Ihr Herz schlug schneller, obschon sie wusste, dass sie sich vor voreiligen Schlüssen hüten musste. »War euer Daddy auch im Krieg?«
»Ja.«
Tess atmete erleichtert auf. Das Rätsel war gelöst. Schüsse, Feuerwerkskörper, laute Geräusche; sie alle waren auslösende Faktoren.
Jack hatte im Krieg etwas erlebt, das so schrecklich war, dass er damit nicht fertig wurde; so schmerzlich, dass sein Bewusstsein es mit aller Kraft verdrängte.
Was immer es war, er war damals davor davongelaufen und tat es auch jetzt noch.
Tess lehnte sich in die Kissen zurück. In ihr regte sich Hoffnung. Jetzt hatte diese Angst einen Namen und eine Ursache.
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