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Im Bann seiner Küsse

Im Bann seiner Küsse

Titel: Im Bann seiner Küsse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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gab nichts. Keine Erinnerung, nicht die leiseste Andeutung. Die Leere seines Bewusstseins war entmutigend und erschreckend.
    Er schlug mit dem Kopf gegen den Baum und presste die Augen zu. Er ballte die rechte Hand zur Faust und spürte einen glühenden Schmerz.
    Er blickte hinunter. Seine Hand war ein zerkratztes, mit Splittern durchsetztes Etwas aus Blut und aufgeschürfter Haut.
    Das Bild schleuderte ihn in die Vergangenheit zurück. Blutige Finger, ein blutiger Arm, Blut und Schmutz, Blut und Schmutz, Blut und ...
    Johnny.
    Jack stöhnte leise, als ein Bild nach dem anderen durch sein Bewusstsein kreiste. Der Regen, der Donner, das Bild von Johnnys totem Kopf im Fenster. Der Albtraum.
    Er konnte sich an das erinnern, was er immer in Erinnerung hatte: an den Anfang und das Ende. Es begann immer mit dem Albtraum und endete mit der Finsternis.
    Selbstverachtung erfasste ihn in einer betäubenden, Übelkeit erregenden Woge. Er ignorierte den Schmerz und ballte seine wunde Hand zur blutigen, zitternden Faust.
    Der Krieg war vorüber, verdammt. Warum konnte er nicht vergessen? Warum?
    Er hatte es so sehr versucht. Er hatte alles getan, was die Ärzte ihm rieten. Er hatte sich gesagt, dass er männlich gehandelt hatte, dass er das Normale getan hatte. Er hatte seine Lippen versiegelt und nicht ein einziges Mal vom blutigen Schlachtfeld in Antietam oder dem Tag von Johnnys Tod gesprochen.
    Und doch waren die Erinnerungen geblieben und im Dunkeln aufgeblüht, in den gewundenen Schlupfwinkeln seines Bewusstseins.
    Einmal hatte er geglaubt, es würde ihm helfen, wenn er davon spräche. Nach so vielen Jahren der Einsamkeit, die er im licht-und luftlosen Raum im Spital verbracht hatte, untätig, seinen Gedanken ausgeliefert, die um das Entsetzliche kreisten, hatte er geglaubt, er müsse seine Erinnerungen nur mit jemandem teilen, um sie abzuschütteln.
    Nur hatte es niemanden gegeben, mit dem er sie teilen konnte. Niemand wollte ihm zuhören. Er konnte sich an den Tag erinnern, an dem er es endlich nach Hause geschafft hatte. Die endlosen, schmerzlichen Monate auf der Straße zwischen Spital und Zuhause hatten sich in dem Moment aufgelöst, als er das hohe, anmutige Herrenhaus erblickt hatte. Auf bloßen Füßen, die Hunderte von Meilen auf steinigen, schmutzigen Straßen zurückgelegt hatten, war er zum Vordereingang gelaufen.
    Er hatte sich gesagt, es sei ohne Bedeutung, dass niemand ihn begrüßte. Man wusste nicht, dass er endlich heimgekehrt war. Man hatte nicht einmal gewusst, dass er im Krankenhaus lag. Man wusste nur, dass der Krieg vor Monaten ein Ende gefunden hatte und keiner der Söhne heimgekehrt war.
    Zuerst war der Empfang wie erwartet. Vater und Mutter, Amarylis und Savannah hatten ihn umdrängt und umarmt und unter Lachen und Weinen begrüßt. Er und Amarylis hatten eine wundervolle, verzauberte Liebesnacht verbracht. Eine Nacht, die Jack seine heiß geliebte Katie bescherte.
    Am Morgen freilich war alles anders. Es hatte dazu nur eines einzigen, beiläufig geäußerten Wortes bedurft: >Spital<.
    Wir dachten, du wärest in Kriegsgefangenschaft geraten, Sohn.
    Auch jetzt noch zuckte Jack zusammen, wenn er an die tiefe Beschämung dachte, die die leisen Worte seines Vaters in ihm geweckt hatten.
    Nein, ich war im Spital.
    Wo wurdest du verwundet? Seine Mutter hatte es besorgt gefragt.
    Diese Frage war es, deren Beantwortung ihm am schwersten gefallen war. Er hatte keine Narben, hinkte nicht, es fehlten ihm keine Gliedmaßen; er wies keine Verletzungen von der Art auf, die sie hätten verstehen und akzeptieren können.
    Er konnte es ihnen nicht verargen - oder bemühte sich zumindest darum. Schließlich konnte er, der es selbst erlebt hatte, es nicht begreifen.
    Er hatte sein Möglichstes getan, um es ihnen zu erklären. Ich weiß nicht, was geschah, Dad... Der Befehl zum Angriff kam. Aber ich... ich konnte mich nicht vom Fleck rühren. Dann rief Johnny mir etwas zu, und ich lief ihm nach, aber ich kam ...zu spät. Er war schon tot. Danach kam ich im Lazarett zu mir...
    Wie ein elender Feigling konntest du dich nicht rühren, nur weil um dich herum Blut floss? Sein Vater hatte sich angewidert von ihm abgewendet. Sein Ton hatte ihn stumm verdammt. Du bist nicht mein Sohn.
    Jack sagte nichts mehr. Wenn er seinem Vater ins Gesicht sah, war ihm klar, dass die Ärzte Recht gehabt hatten. Er hätte seine Lippen versiegeln sollen, hätte Schmerz und Schuld wie ein Mann tragen sollen. Schweigend.
    Er hatte sie entehrt,

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