Im Bann seiner Küsse
Es ging nicht darum, dass er ihr nicht traute. Es ging darum, dass er sich selbst nicht traute.
Tess war erleichtert. Das war etwas, das sie bewältigen konnten.
»Wollt ihr denn bei mir schlafen?«, fragte sie leise.
Beide Mädchen nickten zugleich.
Tess beugte sich über sie und blies die Lampe aus. Dann schliefen sie alle unter der großen Decke aneinander geschmiegt ein.
Draußen tobte das Unwetter weiter.
Der nächste Morgen dämmerte hell und schön herauf, ohne eine Spur des Gewitterregens, der das Land in der Nacht zuvor heimgesucht hatte. Tess stand mit Caleb in den Armen auf der Veranda und winkte den Mädchen nach, die zur Schule gingen. Neben ihr glänzten die Eichenblätter in der hellen Sonne.
Caleb krähte munter in ihren Armen. Sie wiegte ihn leicht und dachte, während sie über die sanft gewellten Weideflächen schaute, an die vergangene Nacht.
Posttraumatische, stressbedingte Störungen.
Sie hatte sich mit dieser Störung in einigen ihrer Psychologiekurse beschäftigt. Ihrer Erinnerung nach handelte es sich um einen Zustand, an dem ein großer Personenkreis litt - Unfallopfer, Opfer von Vergewaltigung und Kindesmissbrauch, Kriegsteilnehmer. War ein Trauma zu intensiv oder zu schwer, um bewältigt zu werden, wurde es vom Bewusstsein in einer Form der Selbstverteidigung verdrängt. Amnesie, Blackouts, Schlaflosigkeit, Wut und Depression waren in diesen Fällen die üblichen Reaktionen.
Ohne dass der Bürgerkrieg in ihren Kursen eigens behandelt worden wäre, konnte sie sich vorstellen, dass er verheerende psychologische Folgen nach sich gezogen haben musste. Brüder, Väter, Vettern, Freunde, alle hatten sie einander im Kampf Auge in Auge gegenübergestanden. Hatten einander getötet.
Der Gedanke ließ Tess schaudern. Kein Wunder, dass Jack Albträume hatte und nicht schlafen konnte. Er kämpfte mit einer Störung, die man erst hundert Jahre später verstehen würde. Wahrscheinlich hielt er sich für wahnsinnig.
Plötzlich konnte sie sich seinen gehetzten Blick erklären. Ebenso Wut und Angst und der Schutzschild des Schweigens. Und die Befürchtung, er würde jemandem etwas antun. Auf diese Weise versuchte er, mit der Normalität umzugehen, die ihm manchmal zu entgleiten schien, versuchte er, Nächte zu überstehen, die durch die Hölle führten, ehe sie ins Morgenlicht mündeten.
Deswegen bin ich da. Die Erkenntnis traf sie schwer. In diesem Jahrhundert konnte Jack niemand helfen. Das blieb jemandem mit dem Wissen der Zukunft überlassen. Es blieb Tess überlassen.
»Ich kann dir helfen, Jack«, murmelte sie. »Komm nur nach Hause und lass es mich versuchen.«
Tränen brannten ihr in den Augen. Ihre Stimme war belegt vor lauter Gefühl. »Komm nur nach Hause.«
Jack schwankte zwischen Ohnmacht und Bewusstsein. Als er schließlich endgültig zu sich kam, fühlte er sich benommen und orientierungslos.
Angst begann als ungutes Gefühl im Magen und steigerte sich bis zu Atemnot. Sein Herz schlug so rasch und heftig gegen seine Rippen, dass es schmerzte.
Er öffnete die Augen und bereute es sofort. Das Licht der späten Nachmittagssonne bohrte sich ihm tief in den Schädel. Er zuckte zusammen, wohl wissend, was als Nächstes kommen würde. Was immer als Nächstes kam.
Die Migräne begann als leichtes, dröhnendes Hämmern im Hinterkopf. Mit jedem Herzschlag breitete sie sich aus, durchdrang sein Gehirn und bohrte hart hinter den Augen. Übelkeit wühlte in seinen Eingeweiden und machte sich als bitterer Geschmack bemerkbar.
Wo zum Teufel war er?
Verzweifelt suchte er nach Landmarken und konnte keine finden. Er saß unter einer hohen Zeder inmitten eines großen Feldes. Es konnte jedes Feld irgendwo auf der Insel sein. Er wusste nur, dass es nicht sein Feld war.
Zitternd versuchte er aufzustehen, aber seine Beine waren so schwach, dass sie sein Gewicht nicht tragen konnten. Als er sich halb aufgerichtet hatte, geriet er ins Schwanken und griff blindlings nach dem Baum. Raue Rinde schürfte die Knöchel auf und grub sich tief in seinen Handrücken. Er riss die Hand zurück und hielt sie schützend an die Brust. Warmes Blut durchtränkte das schmutzige Material seiner Hose.
Er taumelte seitwärts und stieß dabei schwer gegen den Baum. Schmerz schoss durch seine Schulter und den Arm entlang. Schwer keuchend lehnte er an dem dicken Stamm.
Panik und Verzweiflung würgten ihn, als er versuchte, sich zu erinnern. Etwas, dachte er verzweifelt, bitte, lass etwas da sein ...
Doch es
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