Im Bannkreis Des Mondes
Zorn und der Verachtung ihrer Mutter seit Jahren leben müssen. Talorcs Haltung war weder aggressiv noch zeigte er Respektlosigkeit. Er war aufmerksam und schien keinesfalls gelangweilt zu sein oder etwas Besseres zu tun haben, als mit seiner zukünftigen englischen Braut zu plaudern.
Aber er hatte sich nicht die Mühe gemacht, bei ihrer Ankunft anwesend zu sein. Plötzlich kam Abigail der Gedanke, diese Respektlosigkeit könne sich gegen ihre Eltern und nicht zwingend auch gegen sie gerichtet haben.
Als er sie ansah, lag Skepsis in seinem Blick. Zudem las sie Misstrauen, vielleicht sogar Enttäuschung darin, auch wenn sie nicht wusste, was ihn so enttäuschte. Hass jedoch entdeckte sie nicht in seinen Augen.
Sie wusste, dass er sie als seine Frau ablehnen würde, sobald er von ihrer Taubheit erfuhr. Möglicherweise würde er sie dann sogar hassen. Aber ihr blieb kaum eine andere Wahl. Wenn sie sich weigerte, ihn zu heiraten, würde Sybil Mittel und Wege finden, um Abigail weiterhin und schlimmer als zuvor zu quälen. Die Prügel, die sie eingesteckt hatte, wären nichts verglichen mit dem, was sie erwartete. Ihre einzige Chance, Emily irgendwann wiederzusehen, bestand darin, diesen Mann zu heiraten.
Der zwar die Engländer hassen mochte, ihr aber keinen Hass entgegenbrachte. »Ich werde Euch heiraten«, sagte Abigail.
Er nickte, als habe dies nie infrage gestanden. Zweifellos hatte er nicht damit gerechnet, dass sie sich weigern könnte. Er schien ein Mann zu sein, der immer bekam, was er wollte. Dem sich nichts in den Weg stellen durfte.
»Die Sinclairs schlagen keine Frauen. Aber wir töten Verräter.«
Abigail spürte, wie sie zusammenzuckte, nachdem sie Talorcs Worte in sich aufgenommen hatte. »Ich werde Euren Clan niemals verraten.«
»Ihr gebt mir Euer Wort?«
»Ich schwöre es bei meiner Seele.« Dass sie ihr Gebrechen vor ihm verheimlichte, betrachtete sie nicht als Verrat an seinen Leuten. Eigentlich war Abigail sogar überzeugt, die Sinclairs wären froh, sie loszuwerden, sobald ihre Taubheit entdeckt wurde. Ihre Schwester hatten sie auch nicht mit offenen Armen willkommen geheißen. Aber Abigail würde niemals den Clan in Gefahr bringen oder Talorcs Geheimnisse preisgeben. Sie wusste, dass ihre Mutter so manches Mal die Geheimnisse ihres Stiefvaters weitererzählte, um sich bei anderen interessant zu machen.
Er blickte sie prüfend an, wie sie es vorhin mit ihm getan hatte. Schließlich leuchteten seine verwirrend blauen Augen zufrieden auf. »Eure Mutter verdient den Tod für das, was sie der Frau angetan hat, die nun mein ist.«
Er meinte das vollkommen ernst. Das war kein Getue. Keine müßige Drohung, die er äußerte, um die Engländerin, die vor ihm stand, mit seiner Macht zu beeindrucken. Er meinte, was er sagte.
Abigail schüttelte den Kopf und war froh, dass ihre Muskeln nicht bei jeder Bewegung schmerzten. »Nein, bitte nicht. Sie hält es für ihr gutes Recht, über mein Leben zu bestimmen und mir ihren Willen aufzuzwingen.« Abigail war überzeugt, dass unter den Angehörigen des Adels die meisten Eltern so dachten. »Außerdem verdient mein Stiefvater nicht den Tod. Er ist meiner Mutter in den Arm gefallen und hat weitere Prügel verhindert. Und zudem hat er versprochen, mich nicht in eine Ehe zu zwingen, vor der ich mich fürchte.«
Abigails Kehle schmerzte von den vielen Worten. Manchmal vergingen Tage, ohne dass sie ein einziges Wort sagte. Jetzt war sie hingegen gezwungen, so viel zu reden wie früher mit Emily. Nur wusste sie in diesem Fall, dass Talorc sich keine Mühe gab, ihre Lippen zu lesen, weshalb sie ihre Stimme modulieren musste, damit er sie hörte. Und wenn es nur ein Flüstern war, ihre Stimme war doch da.
»Er würde mich wegen dieser grausamen Hexe herausfordern, die Ihr Mutter nennt?«
Abigail hörte ihr eigenes Keuchen nicht, doch sie spürte es. »Ja«, war alles, was sie sagen konnte.
»Sie werden bei den Sinclairs niemals willkommen sein. Eure Mutter hat Euch wehgetan. Und er hätte Euch besser beschützen müssen.«
»Es sei so, wie Ihr sagt.« Es war Abigail egal, ob sie ihre Eltern je wiedersah. Was Emily betraf, lagen die Dinge aber völlig anders. Sie schluckte und nahm all ihren Mut zusammen. »Aber was ist mit Emily? Ist sie auf Eurem Land willkommen?«
»Der Balmoral ist ein Verbündeter. Seine Frau ist mir willkommen.«
»Dann bin ich zufrieden. Ich habe sie vermisst.«
Talorc nickte. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und ging fort.
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