Im Bannkreis Des Mondes
Leiden müsse bestraft werden und sie verdiene kein Mitgefühl.
»Du bist taub«, sagte er eindeutig feindselig und bestätigte damit ihre schlimmste Angst.
Alles in ihrem Innern kam zum Stillstand. Ihre Hoffnung schwand und ließ nichts als Leere zurück. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, ihm die ganze Wahrheit zu sagen. »Ich …«
»Lüg mich nicht an«, unterbrach er sie, ehe sie weitersprechen konnte. »Das hast du schon gemacht, seit wir uns das erste Mal begegnet sind.«
Sie schüttelte den Kopf. Das stimmte nicht. Sie hatte ihr Leiden vor ihm verborgen, aber sie hatte ihn nie angelogen. Niemals.
Sein Blick wurde eisig. »Du kannst es nicht leugnen. Ich habe dir eine Warnung zugerufen, als ich hörte, wie das Wildschwein durchs Unterholz brach, aber du hast nicht darauf reagiert. Und gerade habe ich meinen Soldaten befohlen, einen Kriegsschrei loszulassen, und du bist nicht mal zusammengezuckt. Dabei würde dieser Schrei selbst einen erfahrenen Kriegsmann das Fürchten lehren.«
»Ich habe mich auf die Falten meines Plaids konzentriert.« Und sie hatte nicht in seine Richtung geschaut, weshalb ihr seine Warnung entgangen war. Es war ihr egal, was gerade passiert war.
»Es gab so viele Anzeichen. Und ich kann nicht glauben, dass ich so lange gebraucht habe, die Wahrheit zu sehen.«
»Ich hatte bereits viele Jahre Erfahrung damit, in denen ich gelernt habe, mein Gebrechen zu verbergen.« Und sie hatte gute Gründe, ihr Leiden zu verbergen. Ein Grund aber war mit jedem verstreichenden Tag wichtiger geworden: ihre Liebe zu Talorc und ihr Wunsch, bei ihm zu bleiben. Bei dem Mann, der sie nun hasste.
»Und wie kommt es, dass du sprechen kannst?«, wollte er wissen.
»Ich habe mein Gehör mit zehn Jahren verloren. Nach einem Fieber.«
»Und du hast seitdem jeden getäuscht? Niemand kannte die Wahrheit?«
»Ja.«
»Wie ist dir das gelungen?«
»Es war Emily …«
»Ich hätte es wissen müssen.«
»Das darfst du ihr nicht anlasten! Sie war die Einzige, die sich genug aus mir machte. Sie wollte mich vor einem schlimmen Schicksal bewahren und hat jeden Tag stundenlang mit mir geübt, damit ich weiter normal sprechen konnte. Ich habe von ihr gelernt, von den Lippen abzulesen. Niemand in unserer Burg wusste von meinem Leiden, außer meiner Mutter und meinem Stiefvater. Irgendwann erfuhr auch meine Schwester Jolenta davon. Sonst niemand.« Sie hasste es, den Schmerz der Vergangenheit mit ihm zu teilen. Aber zumindest die Wahrheit schuldete sie ihrem Mann.
Er fragte sie nicht, ob ihre Taubheit der Grund war, weshalb ihre Mutter sie so abgrundtief hasste. Das musste er auch so erkennen.
»Ich habe Osgard versichert, du seist ohne Fehl. Ich war so ein Narr!« Sie hätte es ertragen können, wenn er ihr seine ganze Wut entgegengeschleudert hätte. Aber sie sah auch abgrundtiefen Schmerz in seinen Augen.
Das brach Abigail das Herz. »Nein.«
»Doch! Vielleicht hat die Hure von Mutter dich überzeugt, mich von Anfang an zu belügen. Aber du hättest zahlreiche Gelegenheiten gehabt, mir die Wahrheit zu sagen.«
»Ich hatte Angst.«
»Du bist wie all deine Landsleute. Feige Lügner, jeder Einzelne.«
»Nein, so ist es nicht.«
Er sah Guaire an. »Bring sie in unsere Kammer.«
»Talorc, bitte.« Sie packte ihn am Arm, aber er schüttelte sie einfach ab.
»Du hast mich schon zum Narren gehalten. Willst du das noch schlimmer machen, indem du mir vor meinen Männern den Gehorsam verweigerst?«
»Warum nicht? Du hast schließlich mein Geheimnis vor ihnen enthüllt.«
»Du hast auch meine Leute betrogen; sie haben es darum verdient, die Wahrheit zu erfahren.«
»Ich wollte doch nur ein Mal die Chance haben, irgendwo dazuzugehören.« Sie erwartete nicht, dass er verstand, was sie meinte. Die Einzige, die sie immer verstanden hatte, war Emily. Aber das hatte sie ihm bereits gesagt.
»In meinem Clan ist kein Platz für Betrüger und Feiglinge.«
Die Worte waren wie Ohrfeigen. Sie ging vor Schmerz in die Knie.
Jemand berührte sie sanft an der Schulter. Sie blickte auf. Ihre Augen schwammen voller Tränen. Guaire beugte sich mitfühlend über sie.
Er bot ihr seinen Arm. »Komm, Mylady.«
Ehe sie seinen Arm ergreifen konnte, wurde sie hochgerissen. Talorc hob sie hoch und trug sie zur Treppe. Sein Körper bebte vor Wut und Ablehnung.
Abigail wollte sich nicht länger verstecken. Sie blickte zu der Tafel mit den Soldaten, um sich dem ganzen Ausmaß der neuen Situation zu stellen. Die Männer starrten sie
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