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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Erde. Wir fahren an zwei Jungen vorbei, die an der Böschung spielen. Neben ihnen liegt ein Bambusfloß, eine stabil wirkende Konstruktion, mit einem Seil zusammengebunden. Der eine Junge ist nackt, der andere trägt weiße Unterwäsche. Als sie uns bemerken, springen sie in den Fluss, schwimmen auf uns zu und schreien. Graham übersetzt: »Ich bin ein großer Fisch. Ich schwimme zu eurem Boot. Ich werde euch fressen. Fürchte mich, kleines Boot, denn ich bin der große Fisch des tosenden Flusses.«
    »Wenn die beiden groß sind, werden sie bestimmt Dichter«, sage ich.
    Graham winkt ihnen zu. »Oder Verbrecher.«
    Ein Stück flussabwärts steht ein Mädchen im Wipfel eines Baumes. Die Kleine trägt ein braunes Kleid, das ihr bis zu den knochigen Knien reicht. Vorsichtig dreht sie uns den Rücken zu. Der Ast, auf dem sie steht, schwankt, ist sehr dünn und ich bin sicher, dass er brechen wird. Sie ruft etwas in die Trauerweiden hinein, die beim Klang ihrer Stimme in Bewegung geraten. Eine ältere Frau taucht aus dem grünen Blattwerk auf. Sie lächelt und winkt dem Boot zu, schreit und das Mädchen beginnt ebenfalls zu winken.
    »Was sagen sie?«
    »Die Frau fordert uns auf, an Land zu kommen«, sagt Graham. »Sie möchte uns Schildkrötenwein verkaufen.«
    Ochsen baden unweit der schlammigen Flussufer, ihre massigen Körper rollen im braunen Wasser hin und her. Hier und da wird ein vereinzelter Ochse von seinem Besitzer geführt, ein ausgefranster Strick ist um seinen Hals geschlungen. Wenn sie nass sind, haben Ochsen ein glänzendes schwarzes Fell, dann schimmern ihre breiten Rücken. In trockenem Zustand ist ihre Haut grau und staubig und sie sehen ausnahmslos alt und verbraucht aus. Der Anblick ist mir so vertraut, dass ich sofort denke, es muss der Kadaver eines Ochsen sein, als ich eine aufgeblähte Silhouette erspähe, die flussabwärts auf unser Schiff zutreibt. Doch dafür ist sie viel zu klein.
    »Sehen Sie!«
    Graham hat sie bereits entdeckt und beugt sich über die Reling, um sie genauer in Augenschein zu nehmen. »Ist das etw a …?«, fragt er. Offenbar denkt er das Gleiche wie ich.
    »Schwer zu sagen.«
    Endlich kommen wir ganz nahe heran. Die Leiche treibt mit dem Gesicht nach unten im Fluss; das graue Hemd und die Hose sind vom Wasser aufgebläht. Das einzige sichtbare Fleisch ist der groteske Nacken und ein bleicher Fuß, die auf das Doppelte ihrer normalen Ausmaße angeschwollen sind. »O mein Gott.«
    »Besser, Sie gewöhnen sich daran«, sagt Graham. »Sie werden noch einige zu Gesicht bekommen. Während der Regenzeit kommt es oft vor, dass Leute, die auf den Dämmen arbeiten, vom Fluss mitgerissen werden und ertrinken. Dort, wo es Stromschnellen gibt, ist es nichts Ungewöhnliches, dass jemand aus dem Sampan fällt und einfach verschwindet. Und nicht zu vergessen die Selbstmorde.«
    »Hält niemand nach ihnen Ausschau?«
    »Selten. Die Chinesen haben eine ziemlich fatalistische Einstellung zum Fluss. Die Familien trauern natürlich, unternehmen allerdings nur selten Anstrengungen, die Leiche zu bergen.«
    »Warum nicht?«
    »Das wäre fast unmöglich. In den britischen Logbüchern, die zu Beginn unseres Jahrhunderts geführt wurden, wim melt es von Meldungen über Passagiere, die über Bord gingen, oder Einheimische, die in Ufernähe ertranken. Selbst in Fällen, wo es ein Leichtes gewesen wäre, jemanden zu retten, machten die Chinesen mit ihren Booten unweigerlich einen großen Bogen um ihn. Damals war jeder, der einen Menschen aus dem Fluss rettete, bis zu seinem Lebensende für ihn verantwortlich. Niemand konnte es sich leisten, einen weiteren Esser durchzufüttern.«
    Eine Welle erfasst die Leiche, rollt sie herum wie ein großes, aufblasbares Spielzeug. Der andere Fuß wird sicht bar, er steckt in einem roten Stoffschuh. Ich blicke in das Gesicht eines jungen Mannes, aufgedunsen, wächsern und trotz der starren Miene seltsam lebensecht. Die Augen sind geschlossen, die Haut wirkt glitschig.
    »Was machen wir jetzt?«, frage ich.
    »Wir können nichts tun.«
    »Sollten wir nicht jemanden von der Mannschaft informieren?«
    Wie auf Stichwort taucht Elvis Paris neben uns auf. »Sehr einladende Landschaft, ja?«
    »Wir haben gerade eine Leiche entdeckt.«
    Elvis Paris ist nicht gewillt, die Möglichkeit auch nur ansatzweise in Betracht zu ziehen. »Ich denke, hier keine Leichen.«
    »Überzeugen Sie sich selbst.« Ich deute auf den Leichnam, der von uns wegdriftet, sich langsam flussabwärts

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