Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
bewegt. Der rote Schuh, die Kleidung und die Hände, die soeben aufgetaucht sind und aussehen, als würden sie uns zuwinken, wären für jeden ein hinlänglicher Beweis, dass es sich um eine menschliche Gestalt handelt.
»Das keine Leiche.« Er lächelt gönnerhaft, wie ein Erwachsener, der ein Kind zu beschwichtigen sucht, das glaubt, dass sich unter dem Bett ein Gespenst verbirgt.
»Wenn es keine Leiche ist, was ist es dann?«, fragt Graham. Elvis wirft abermals einen flüchtigen Blick hinüber, Interesse vortäuschend. »Aha, ist Hundekadaver!«
Graham lächelt. »Ist der Leichnam dafür nicht etwas zu groß?«
»Ist sehr großer Hund«, erwidert Elvis Paris, ohne eine Miene zu verziehen.
Graham lacht. »Seit wann tragen Hunde Schuhe?«
Elvis denkt kurz nach. Er zieht die Augenbrauen hoch. »Vielleicht ist sehr wohlhabender Hund! Vielleicht Hund ist Kapitalist Straßenarbeiter!« Er macht auf dem Absatz kehrt und geht, lacht über seinen eigenen Witz. Graham und ich stehen Seite an Seite an der Reling und sehen zu, wie der Leichnam kleiner wird, verschwindet.
»Ich schätze, Leichen sind schlecht für den Tourismus.«
Nach wenigen Minuten habe ich die Gesichtszüge des Toten bereits vergessen. Ich versuche, ihn in Gedanken ein zweites Mal zu erschaffen, doch nur der rote Schuh und die winkenden Hände ergeben ein klares Bild. Der mächtige Fluss nimmt meine Fantasie gefangen. Er ist breit an dieser Stelle, eine Heimstätte für hunderte von Booten, deren kollektives Geknatter mich an Alabama erinnert, an dutzende von Rasenmähern, die samstagmorgens mit einem Ruck zum Leben erwachten. Überall entlang dem Flussufer waschen Frauen Wäsche, baden ihre Kinder. Die Sonne brennt vom Himmel, ein roter Feuerball. Ich suche mit den Augen den Fluss nach Fischen ab, entdecke jedoch keine. Es ist seltsamerweise kein Vogel in der Luft. Graham ist verstummt. Er stützt sich auf die Reling, seine Hände zittern heftig.
»Fehlt Ihnen etwas?«
Er schweigt einen Moment, als müsse er entscheiden, ob er reden oder schweigen soll. »Was wollen Sie über mich wissen?«
Ich wende meinen Blick ab, mustere die mir fremde Landschaft und spreche genau das aus, was ich denke: »Alles.«
Sein Hemd riecht leicht nach Stärke. Seine Hände, die sich festklammern und zittern, kommen mir schön vor. Ich stelle mir diese Hände unter meinem Rock vor, wie sie an der Rückseite meiner Oberschenkel hinaufgleiten. Ich stelle sie mir auf meinen Brüsten vor, den leichten Druck auf meinem Hals.
»Also gut«, sagt er. »Ich habe ALS .«
» ALS? «
»Amyotrophe Lateralsklerose. Der reinste Zungenbrecher. Auch Lou-Gehrig-Krankheit genannt.«
Ich bin sprachlos, unfähig, angemessene Worte zu finden. Die Telethon-Sendungen am späten Abend kommen mir in den Sinn, in denen irgendein Sitcom-Schauspieler, einer der vielen ehrenamtlichen Helfer, telefonisch um Spenden für die Stiftung zur Erforschung von Muskelerkrankungen bittet. Im Hintergrund laufen die Telefone heiß, während die Zahlen auf dem Bildschirm blinken und zum Handeln auffordern. Mit nur einem Dollar pro Tag, dem Preis für eine Tasse Kaffee, können Sie uns bei der fieberhaften Suche nach einem Heilmittel unterstützen. Ich sage das Einzige, was mir in den Sinn kommt: »Wie lange wissen Sie es schon?«
»Elf Monate.«
Ich versuche, mich an jemanden zu erinnern, der meines Wissens ALS hat, irgendeinen Bekannten oder Freund meiner Eltern, doch mir fällt niemand ein. Natürlich habe ich von dieser Krankheit gehört, ich weiß allerdings nichts über ihre Ursachen und Auswirkungen, ob sie tödlich verläuft oder nicht und welchen Tribut sie den Opfern abverlangt. »Haben Sie Schmerzen?«
»Sie kommen und gehen. Im Augenblick tun mir meine Hände weh. In einer Stunde vielleicht nicht mehr. Dann habe ich vielleicht Muskelkrämpfe. Manchmal brennen meine Augen. Die Füße schwellen an. Bisweilen habe ich Sprachstörungen. Die Liste ist endlos. Ich möchte Sie nicht langweilen.«
»Gibt es ein Heilmittel?«
»Nein. Nur Schmerzmittel und ein Medikament namens Rilutek, das die Schübe verzögert, die Krankheit selbst jedoch nicht zum Stillstand bringt. Sie wird schlimmer und schlimmer, führt unausweichlich zum Tode. Die Hälfte der Betroffenen stirbt innerhalb von achtzehn Monaten nach der Diagnose. Ich gehöre zu den Glückspilzen. Die Ärzte meinen, ich hätte möglicherweise noch ein Jahr zu leben.«
Ich ergreife seine Hand, spüre das Zittern. »O Gott. Ich weiß nicht, was
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