Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
bernsteinfarben, trübe vom Schlamm. Abfall treibt vorüber: Plastikschuhe, Papp becher und Blechdosen, Bierflaschen, ein Weidenkorb, ein Paar Hosen. Eine weitere Leiche driftet den Fluss hinunter, die vierte, die ich gesehen habe. Ich blicke in das Gesicht eines jungen Mädchens, das aus einem Wust dunkler Haare auftaucht, eine silberne Kette glitzert an ihrem bleichen Hals – sie ist noch nicht lange tot. Eine einsame Män nergestalt geht einen Flusspfad entlang, eine Stange auf der Schulter balancierend. An den beiden Enden hängen schwere Körbe. Fabrikschlote glühen auf fernen Berghängen. Eine Pagode schimmert im Regen, mehrere Dachziegel fehlen. Überall Pagoden, Relikte aus Chinas Vergangenheit, die zutiefst von Kunstsinn geprägt war, bevor die Industrie die Herrschaft an sich riss.
»Berühmte Wind Bewegende Pagode von Anqing«, ver kündet Die Stimme. »Sie ist Herrscher von alle Pagoden.« Manchmal habe ich das Gefühl, als wäre Die Stimme mit meinem Gehirn vernetzt, als könnte sie meine Gedanken lesen.
»Wieso Herrscher?«, frage ich, an Graham gewandt.
»Der Legende zufolge pilgern zum Mondfest im Herbst Pagoden aus aller Welt hierher, um ihr zu huldigen. Sie wird Windbewegte Pagode genannt, weil sie sich manchmal im Wind wiegt.«
Im Moment regt sich kein Lüftchen und die Pagode steht völlig reglos da.
Die Tür des Salons wird geöffnet und zugeschlagen. Polternde Schritte nähern sich. Ein beleibter Mann mit weißem Hut und Cowboystiefeln taucht an der Reling auf, nur wenige Meter entfernt. Die Arme über der Brust verschränkt, nimmt er das Flussufer in Augenschein. Seine Frau gesellt sich zu ihm. Sie trägt einen pinkfarbenen Jogginganzug aus Nylon mit Goldbesatz, goldene Armbänder und Halsketten in Mengen, große Türkisringe, erschreckend weiße Nike-Lederschuhe und Tennissocken mit kleinen rosafarbenen Troddeln, die von ihren Knöcheln herunterbaumeln. Das Paar scheint uns nicht zu bemerken.
»Eine Schande«, donnert der Mann. Ein Texaner, unverkennbar an seinem langsamen, nasalen Tonfall. »Schau dir die Berge an! Sie könnten eine Goldgrube sein, im Ernst, eine Touristenattraktion ersten Ranges. Weißt du, was ich tun würde, wenn es nach mir ginge? Ich würde den ganzen Schrott platt machen, die Fabriken und elenden Hütten und die verlotterten Wohnbaracken. Und dann würde ich eine brandneue Ferienanlage aus dem Boden stampfen, mit allem, was heute dazugehört, Zimmer mit Luxusausstattung, Marmorböden, Badewannen auf Klauenfüßen, ein Fitnesscenter mit den neuesten technischen Errungenschaften. Und ich würde nicht kleckern, sondern klotzen und notfalls einen Berg begradigen, um das Angebot mit einem Golfplatz abzurunden.«
»Klingt himmlisch«, sagt seine Frau.
»Ich würde ein paar von diesen hübschen kleinen Chinesinnen einstellen und dafür sorgen, dass sie ihre langen Seidenklamotten tragen, bis obenhin geschlitzt, und den Gästen jeden Wunsch von den Augen ablesen. Pantoffeln bringen, Wäsche waschen, massieren. Sie müssten knallroten Lippenstift tragen und ellenlange Fingernägel haben, mit weißen Drachen bemalt. Was die Preise angeht, würde ich richtig absahnen und ich wette, die Leute stehen trotzdem Schlange. Ich würde Pauschalreisen zusammenstellen, alles inklusive, Flug nach China, Jangtse-Fahrt, eine Woche im Oriental Palace.«
Seine Frau verbessert ihn sanft. »Oriental darfst du es nicht mehr nennen, Schatz. Wie wäre es mit Jangtse Jewel?«
»Na gut, dann eben Jangtse Jewel. Wer dort logiert, erlebt China aus erster Hand, nur besser, weil man alle Annehmlichkeiten hat, an die man zu Hause gewöhnt ist. Wir würden Steaks, Kartoffeln, Hamburger und Püree auf die Speisekarte setzen. Wir würden Arbeitsplätze für all die armen Leute schaffen, die ihre Wäsche im Fluss waschen, ein bisschen welkes Gemüse verkaufen oder ihren Lebensunterhalt als Rikschakuli verdienen müssen. Unvorstellbar, wie sie dieses Land heruntergewirtschaftet haben.«
»Aber wirklich«, sagt seine Frau. Sie dreht sich zu Graham und mir um, ihre Miene ist leicht überrascht, als hätte sie gerade erst bemerkt, dass ihr Mann und sie nicht alleine an Deck sind. »Die Luft ist so verpestet, dass ich kaum noch atmen kann. Was sie diesem Fluss angetan haben, sollte verboten werden.«
Graham blickt mit gerunzelter Stirn zu dem Paar hinüber.
Der Mann zerrt seine Hose über den riesigen Bauch und sagt: »Na ja«, als sei es sein letztes Wort, als ziehe er einen Schlussstrich unter die
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