Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
Bootshaus, die Feuchtigkeit der Luft, der Schweiß, der sich in der Kuhle ihres Schlüsselbeins sammelte, als ich zu erschauern begann.
Später, wenn der Raum warm und das Feuer erloschen war, rösteten wir Riesen-Marshmallows an Spießen aus Draht-Kleiderbügeln, die wir auseinander genommen hat ten. Sie brachte mir bei, wie man die Marshmallows langsam dreht, keine Handbreit von den glimmenden Kohlen entfernt. Wir verbrannten uns die Finger, wenn wir sie vom Spieß nahmen. Sie waren außen knusprig und süß, die geschmolzene Mitte überzog unsere verbrannten Zungen mit einer weißen Glasur. Ich erinnere mich noch heute an die Konturen ihres Gesichts, vom Schein des Feuers im offenen Herd erhellt, an die kleine gerade Nase, die wilde Mähne. Ihr Vater ermahnte sie dauernd, sich zu kämmen, doch ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen als Amanda Ruths Haare, weich wie Samt unter meinen Fingern und duftend, wenn ihr die frisch gewaschenen, noch feuchten Strähnen ins Gesicht fielen.
Es war nicht nur das Feuer. Sie verstand sich auf viele Dinge, für die ich kein Geschick besaß. Sie holte einen Korb mit den verschiedensten Gemüsesorten aus dem Gar ten, kaum ausreichend, uns satt zu machen, und zauberte daraus ein Festmahl, dessen köstlicher Duft das Haus über Stunden füllte. Mit ein paar Okraschoten, einigen Salatblättern, einem Maiskolben und einer Mohrrübe schuf sie Gerichte, deren lebhafte Farbkomposition ins Auge sprang.
Sie konnte jeden alten Stofffetzen in ein neues, einzigartiges Kleidungsstück verwandeln. Ein Rock für fünfzig Cent aus dem D.A.R. –Billigladen, ein Paar Stoffsandalen von K -Mart, ein schmaler Streifen roter Samt von Hancock Fabrics: unter ihren Händen wurden solche bunt zusammengewürfelten, ausrangierten Dinge zu einer ausgeklü gelten Garderobe – zu ausgefallen für unsere Kleinstadt, wo die Mädchen ausnahmslos Khakiröcke und Krokodilledergürtel, Poloshirts und Topsider-Segelschuhe trugen. »Wie apart«, pflegten sie zu sagen, während sie hinter ihrem Rücken lachten, doch das war ihr egal. Wenn der Bus auf einer zweispurigen Straße, die sich durch die endlosen Stadtbezirke von Mobile schlängelte, zur Schule fuhr, stellte sie sich vor, sie sei eine Tochter Chinas, die auf den Schultern prächtig gewandeter, starker Männer in einer goldenen Sänfte eine nebelverhangene Bergstraße hinaufgetragen wurde. Während alle anderen versuchten, sich anzupassen und als Mitglied des mehr oder weniger aufsässigen Rudels zu überleben, lernte sie, auf den Unterschied stolz zu sein, auf den sie seit frühester Kindheit hin gewiesen worden war – durch die Familie ihrer Mutter, die Amanda Ruth als »Mischmasch« bezeichnete, durch das Jahreszeugnis der Schule, das sie als »Orientalin« auswies, durch die ungehobelten Burschen, denen es nicht im Traum eingefallen wäre, mit einem »Schlitzauge« auszugehen.
Manchmal frage ich mich, ob sie mich hören kann. In der Sonntagsschule hieß es, dass die Verstorbenen stets bei uns sind, dass ihr Geist uns begleitet, wenn wir sie zu Lebzeiten von Herzen geliebt haben. Doch ich habe ihre Anwesenheit in den vierzehn Jahren seit ihrem Tod kein einziges Mal gespürt, nur eine lange, stumme Abwesenheit. Tag für Tag rede ich mit ihr, wenn ich alleine bin, nicht nur in Gedanken, sondern laut, wie die armen Irren in den Straßen von New York City, die ins Leere starren, als sähen sie darin das Gesicht eines Menschen, den sie einst kannten. Sie bleiben stehen und lachen und nicken mit den Köpfen, als wären sie in eine angeregte Unterhaltung vertieft. Ich beneide sie um diese Illusion, den Klang anderer Stimmen, die eine schreckliche Stille füllen. Ich rede und rede mit ihr, oft peinlich berührt beim Klang meiner eigenen Stimme in einem menschenleeren Raum oder an Deck dieses lächerlichen Schiffes, doch sie antwortet nicht. Sie hat kein einziges Mal geantwortet. Nur in meinen Träumen spricht sie zu mir und in diesem verschwommenen Bereich zwischen Wachen und Schlafen versuche ich, mich an meinen Traum zu klammern, damit sie bei mir bleibt. Doch dann wache ich auf und weiß, dass ich ihr Bild nur heraufbeschworen habe und die Worte aus ihrem Mund lediglich auf meiner Einbildung beruhen, meine eigene Erfindung sind. Wieder und wieder erwache ich in der kühlen, wunderbaren Dunkelheit, um festzustellen, dass sie mir abermals entglitten ist.
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Im Dämmerlicht sind die Hügel von einem tiefen, üppigen Grün. Der Fluss selbst ist
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