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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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auf dem Tisch Schimmel an.
    »Tut mir Leid, wenn ich heute kein guter Gesellschafter bin«, sagt Graham. »Ich wünschte, jemand würde mich mit Morphium voll pumpen.«
    »Was tut dir weh?«
    »Hände, Füße, Rücken, Gelenke.«
    Der Strom ist abgeschaltet in dem fensterlosen Raum und die große Messinguhr an der Wand zeigt für immer 2:35 Uhr an. Während der Nachmittag vergeht, verlieren wir jedes Zeitgefühl. Graham hat solche Schmerzen, dass ihm das Wasser in die Augen schießt. »Ich hasse diesen Zu stand«, sagt er. Ich versuche ihn zu trösten, streiche ihm über das Haar. Ich fühle mich ausgelaugt und elend in Folge des Schlafmangels und des Wissens um meine Unfähigkeit, ihm zu helfen.
    »Mir ist so heiß«, stöhnt er.
    Ich hole Eis aus dem Automaten im Gang, einen Kübel mit kleinen Würfeln, die in dem Plastikeinsatz klirrend aneinander stoßen. Ich halte sie an seine Stirn, an sein Schlüsselbein, an die weiche Haut seiner Ellenbeuge. »Ich wünschte, ich könnte etwas für dich tun.«
    »Sprich einfach mit mir.«
    »Worüber?«
    »Erzähl mir von der Zeit in der Klinik, nach deinem Reitunfall. Woran erinnerst du dich?«
    »Sie brachten mir ständig Eiscreme und Wackelpudding. Das Eis schmeckte körnig und süß. Die Krankenschwestern rochen wie die Gummisohlen ihrer orthopädischen Schuhe und nach den desinfizierten Metalltabletts, auf denen sie Instrumente und Spritzen herumtrugen. Alle paar Stunden kam eine Frau mit orangefarbenen Haaren ins Zimmer, um meinen Katheter zu überprüfen. Zum Wechseln der Bettwäsche waren vier Schwestern nötig. Sie hoben mich auf ein Laken und hielten mich über dem Bett in der Schwebe. Im Fernsehen lief die Serie ›Mein lieber Biber‹. Ein Junge im Rollstuhl fuhr im Gang hin und her und blieb immer wieder vor meiner Tür stehen. Er war deformiert, hatte eine riesige Stirn, in der rechten Ge sichtshälfte fehlte der Wangenknochen. Er trug die Plastik ringe mit Spinnenmotiv und Smiley-Gesichtern, die von den ehrenamtlichen Helferinnen in Tupperware-Dosen verteilt wurden.«
    »Wie lange warst du in der Klinik?«
    »Zwei Monate, würde ich sagen. Oder drei? Ich kann mich nur verschwommen an die Zeit erinnern.«
    Was mir im Gedächtnis haften geblieben ist, sind die fremden Hände, die sich unentwegt an mir zu schaffen machten, Pfleger und Krankenschwestern, die meinen Körper von A nach B transportierten, die eisige Kälte des Röntgentisches, das Summen des Geräts. Ich hatte das Gefühl, als würden mir sämtliche Knochen auseinander gerissen.
    »Hattest du oft Besuch?«
    »Meine Familie war da. Und manchmal kam Amanda Ruth. Einmal brachte sie mir einen Rubik-Würfel mit, ein anderes Mal ein Lite-Brite-Steckspiel. Als sie zum Geburtstag einen Polierzylinder bekam, schenkte sie mir ›geschliffene‹ Steine.«
    Graham spricht über seine Zeit in verschiedenen Kliniken, die Monate der Ungewissheit. »Es gibt einige Krankheiten mit ganz ähnlichen Symptomen, deshalb ist die Diagnose schwierig. ALS lässt sich nur mittels Ausschlussverfahren feststellen. Sobald sich der Verdacht erhärtete, dass es ALS sein könnte, wurden alle möglichen Unter suchungen durchgeführt: Muskelaktionsstrombilder, Tests zur Bestimmung der Nervenleitgeschwindigkeit, Blut- und Urinuntersuchungen, hochauflösliche Serumeiweiß-Elektrophorese, Schilddrüsen- und Nebenschilddrüsenhormon spiegel, 24-Stunden-Sammelurin für die Untersuchung auf Schwermetalle, Lumbalpunktion, Röntgenaufnahmen, Magnetresonanz-Tomographie, die ganze Skala rauf und runter.«
    »Wie kannst du dir das alles merken?«
    »Ich habe es mir aufgeschrieben. Und mich immer wieder damit beschäftigt. Ich wollte wissen, was sie mit mir anstellen. Im Internet nahm ich Kontakt zu anderen ALS -Patienten auf. Ich begann, via E-Mail mit ihnen zu korrespondieren.« Er zupft einen Fussel von seinem Ärmel. »Anfangs meldeten sie sich jeden Tag, dann einmal in der Woche, später einmal im Monat und bald darauf überhaupt nicht mehr.«
    Am Nachmittag lassen die Schmerzen nach. Wir ziehen unsere Anoraks an und gehen nach oben, an Deck. Der Regen schaukelt das Schiff hin und her. Würden wir die Anker lichten, würde uns die Strömung flussabwärts treiben. Die Welt ist grau in grau, wir sehen kaum mehr die Hand vor Augen. Hin und wieder zuckt ein Blitz auf und zerschneidet die schwüle Luft wie ein Messer.
    »Schau mal«, staunt Graham. »Man sieht genau, an welcher Stelle er auftrifft.«
    Ich glaube, es ebenfalls zu sehen, glaube

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