Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
leidige Angelegenheit. Und dann sind sie verschwunden, genauso schnell, wie sie gekommen sind. Sie flüchten hinter die gläsernen Wände des Salons, ein schweres, blumiges Parfum und stinkenden Zigarettenqualm zurücklassend.
Unser Schiff fährt gemächlich weiter, wirbelt Schlamm und Schutt auf, der große Motor brummt. Sampans und Dschunken, die das Pech haben, in unser Kielwasser zu geraten, hüpfen wie Flaschenkorken in den unruhigen Wellen auf und ab. Ich denke an den Demopolis River, der durch Greenbrook fließt und in den Golfstrom mündet, mit seinem Fischreichtum und seiner üppigen Vegetation. Vor ein paar Jahren, als ich meine Familie in Mobile besuchte, machte ich einen Abstecher nach Greenbrook. Ein ganzes Stadtviertel unten am Flussufer war dem Erdboden gleichgemacht worden. An der Stelle, wo früher das Wochenendhaus von Amanda Ruths Eltern gestanden hatte, befand sich jetzt ein riesiger Einkaufskomplex: Wal-Mart, Home Depot, Pottery Barn, Chili’s, PetSmart, Payless Shoes. Der Fluss selbst war umgeleitet worden. Mittags aß ich grüne Bohnen, Makkaroni mit Käse und Bananenpudding in einem Diner, in dem Amanda Ruth und ich häufig gewesen waren, einem der vielen preis werten Familienrestaurants ohne Schnickschnack, das sich glücklich schätzen durfte, überlebt zu haben, weil es nicht in der Schneise der Zerstörung lag.
»Was ist denn hier passiert?«, fragte ich Miss Betsy, die in diesem Lokal Geschäftsführerin war, solange ich denken konnte. Sie hatte schwarz gefärbte Haare, riesige Brüste und Krähenfüße, die durch mehrere Schichten dunkler Teintgrundierung noch vertieft wurden. Man munkelte, dass sie früher einmal eine Affäre mit Lyndon B. Johnson gehabt hatte. Sie gehörte zu den Frauen, die vierzig oder fünfundsechzig sein konnten, ihr Alter ließ sich schwer schätzen.
Sie füllte meine Kaffeetasse nach und sah aus dem Fenster. »Kein Einheimischer wollte die Immobilie kaufen. Die meisten Grundstücke am Fluss befanden sich im Besitz eines Mannes namens Grady Watson, der sie verpachtete. Er verbrachte sein ganzes Leben auf dem Fluss, den er in gleichem Maß liebte wie seine Frau und seine Kin-der. Als Grady starb, tauchte ein anderes Erschließungsunternehmen auf und Gradys Kinder sahen nur noch Dollarzeichen.«
Der Demopolis River wurde durch einen eigens erbauten, zwei Meilen langen Kanal geleitet, dessen Beton mauern die hintere Begrenzung des Einkaufszentrums und eines benachbarten Golfplatzes bildeten. Das Erschlie ßungsunternehmen stellte Bänke auf und pflanzte ein paar Azaleenbüsche, damit die Leute, die einen Einkaufsbummel gemacht haben und sich mit Hamburgern, Joghurt-Eis und gefüllten Kartoffeln aus der Imbissgasse stärken wollen, in Ruhe essen und dabei die sanfte Strömung beobachten können. Der Komplex heißt River Eden Shoppingcenter und das Erschließungsunternehmen hat, vielleicht eingedenk dieser Fehlbezeichnung, drei riesigen alten Eichen, die dem Parkplatz im Wege standen, ein Bleiberecht eingeräumt. Nun sind die Eichen mit Fahnen und Faltprospekten gespickt und bei Anlässen, die darauf hindeuten, dass sie die öffentliche Meinung in Aufruhr versetzen könnten – ein vermisstes Mädchen oder eine nationale Katastrophe –, werden sie mit großen gelben Absperrbändern geschützt. In den letzten zehn Jahren hat sich Greenbrook von einer idyllischen kleinen Gemeinde mit 4 000 Seelen in eine schlecht geplante, chaotische Ort schaft mit Vorstadtcharakter und 3 5 000 Einwohnern ver wandelt. Weitläufige Grünflächen, auf denen früher ein einzelnes Haus oder eine einfache Hütte stand, sind nun mit dutzenden von Eigenheimen gesprenkelt. Sie glei chen sich wie ein Ei dem anderen und befinden sich, exakt ausgerichtet, in Sackgassen ohne Vegetation, dafür tragen sie blumige Namen wie Oak Branch Court und Dogwood Grove, obwohl von Eichen- und Hartriegelgehölzen weit und breit keine Spur zu sehen ist.
Nachts, wenn das River Eden Shoppingcenter seine Tore schließt, treffen sich die Jugendlichen am Kanalufer zu Marihuana, Bier, Musik und Sex. Die benutzten Kondome liegen zwischen Bierdosen und Cracker-Jack-Schachteln herum. Die Erwachsenen beklagen, dass die Halbwüchsigen ihrer Heimatstadt keinerlei Liebe und Achtung entgegenbringen, doch das ist kein Wunder. In Greenbrook zu leben bedeutete früher, mit dem Fluss zu leben. Wer aus Greenbrook stammte, kannte den ureigenen Geruch der moosbewachsenen Bäume nach dem Regen, die ureigenen Laute der Frösche
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