Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
davon ausgehen, dass sich drei bis vier Spitzel darunter befanden. Ich konnte die Betreffenden bald innerhalb von fünf Minuten identifizieren. Hast du dir ihre Schuhe angesehen?«
»Ganz normale Sandalen.«
»Schon, allerdings aus Leder. Ist dir aufgefallen, dass hier die meisten Schuhe aus Stoff oder Plastik gefertigt sind? Das war das erste Indiz. Das zweite war ihre tadellose Aussprache. Die Regierung hat sie wahrscheinlich zum Sprachstudium ins Ausland geschickt, deshalb ist ihr Englisch um einige Klassen besser als das aller anderen Einheimischen, mit denen du dich unterhalten hast. Und der dritte Hinweis war natürlich die luxuriöse Wohnung. Das Essen, das sie dir vorgesetzt hat, war vermutlich hervorragend.«
Ich denke an die Haifischflossensuppe, eine Delikatesse. »Ich komme mir ziemlich töricht vor.«
»Musst du nicht. So etwas ist mir mehrmals passiert. Pech, kann man da nur sagen, denn im Allgemeinen sind die Chinesen sehr gastfreundlich.«
»Das Mittagessen war trotzdem ausgezeichnet.« Ich lache.
Graham hat eine Hand in der Tasche. Irgendwann zieht er sie heraus und blickt auf die kleine Glasflasche, die mit einer Flüssigkeit gefüllt ist.
»Was ist das?«, frage ich.
»Der Freund, den ich gerade besucht habe, ist Apotheker.«
»Ein Schmerzmittel?«
»Gewissermaßen.«
Ich frage nicht, was er mit gewissermaßen meint. Es gibt Dinge, die ich lieber nicht wissen möchte.
Es ist dunkel, als wir zum Schiff zurückkehren. Graham geht in seine Kabine, um sich auszuruhen. Im Jangtse- Raum höre ich mir einen Vortrag über chinesisches Kultur gut an. Die Referentin, eine distinguiert aussehende ältere Chinesin, die an der BeiDa-Universität arbeitet, führt uns ein Dia nach dem anderen von den Terrakotta-Kriegern vor – eine lebensgroße Streitmacht aus Ton, in Reih und Glied in riesigen rechteckigen Gruben aufgestellt, die aus der festgestampften Erde ausgehoben wurden. Es folgen Dias von anderen Kunstwerken – Vasen und Stühle, Jadeschmuck und meisterhaft gearbeitete Altäre.
Das letzte Dia zeigt Baihe-Liang, den »Grat des Weißen Kranichs«, eine achtzig Meter lange Sandsteinklippe im Hafen von Fuling, mit Felsenzeichnungen und eingemeißelten chinesischen Schriftzeichen. Dr. Tong weist auf ein Karpfenpaar hin, das direkt an der Wasserlinie in Stein gehauen ist. Sie erklärt, dass es aus der Tang-Dynastie stam me, aus der Zeit vor 763. Die Fischbäuche kenn zeichneten den Wasserstand zu der Zeit, als die Zeichnun gen entstanden. Die Flussschiffer in alter Zeit konnten daran den Wasserpegel und den Zustand des vor ihnen liegenden Flussabschnittes ablesen. Die Fische waren nur etwa fünf Monate im Jahr sichtbar, während der Trocken zeit. Die Anbringung der Schriftzeichen auf dem Grat des Weißen Kranichs wurde im Verlauf mehrerer Jahrhunderte von verschiedenen Dynastien in Auftrag gegeben, wobei jeder Eintrag das Datum festhielt, an dem der Steinkarpfen wieder auftauchte. »Mehr als tausend Jahre haben Bewohner von Fulang Karpfen als Symbol betrach tet, das gute Ernte verhieß«, fährt sie fort. Dann schaltet sie das Licht wieder ein. In der Helligkeit ist der Grat des Weißen Kranichs nur mehr ein Schatten auf der Projektionsleinwand.
Eine Stimme im hinteren Teil des Raumes fragt: »Was passiert mit diesem Kulturgut, wenn der Damm fertig ist?«
»Grat des Weißen Kranichs wird im Wasserreservoir untergehen, wie viele Tempel und Kunstdenkmäler.«
Kaum hat sie die Worte ausgesprochen, reißt ihr Elvis Paris auch schon das Mikrofon aus der Hand. »In China gibt viele Kunstschätze«, sagt er. »Reich Kultur. Diese wenige Dinge nur sehr klein Prozentsatz von Chinas Kostbarkeiten. Volk ist Chinas wahrer Schatz!«
Einige Hände werden gehoben, doch Elvis Paris drängt Dr. Tong ins Abseits. »Vortrag jetzt vorbei!«, sagt er. »Bitte gehen Leuchtende Pagode Halle für Cocktails und chinesische Tanz!« Der Raum leert sich. Beim Hinausgehen schiebt ein unbekannter Mann Dr. Tong in eine Ecke und die beiden beginnen zu streiten.
20
In all den Jahren, die ich Mr. Lee kannte, hörte ich ihn nur ein einziges Mal von China sprechen. Amanda Ruth und ich waren gerade auf die Highschool übergewechselt. Es war an einem späten Abend, in dem weitläufigen Haus in Mobile. Er unterhielt sich leise mit Mrs. Lee im Wohn zimmer, das nur eine dünne Wand von Amanda Ruths Zim mer trennte. Am Morgen hatte Mr. Lee einen Anruf von seinem Bruder aus Taiwan erhalten – ein Bruder, von dem Amanda Ruth noch
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