Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
Ming.«
»Ich sehr freue, Sie kennen zu lernen«, sagt Yuk Ming und streckt die Hand aus.
Graham beäugt sie misstrauisch, dann wendet er sich an mich. »Wo warst du?«
»Yuk Ming hat mich zum Mittagessen eingeladen, bei sich zu Hause.«
Graham sagt etwas auf Mandarin zu Yuk Ming. Sein Gesicht ist gerötet und er spricht lauter als sonst. Plötzlich beginnt sie zu brüllen und deutet wild gestikulierend auf mich. Im Nu bildet sich ein Menschenauflauf.
»Lass uns gehen«, sagt Graham und nimmt meinen Arm.
»Was ist los? Was hast du zu ihr gesagt?«
»Komm einfach mit. Glaub mir, diese Frau hat dir keinen Freundschaftsdienst erwiesen.«
Ich will mich von ihr verabschieden, doch nun schreit sie mich an. Als wir uns umdrehen und gehen, folgt uns Yuk Ming, immer noch kreischend, die Menschenmenge im Schlepptau. Allmählich bleiben sie zurück. Während Graham und ich unbeirrt weitergehen und der Mob immer noch hinter uns tobt, denke ich an die Geschichte, die mir mein Freund James unlängst über eine Reise nach Südamerika erzählte, die er mit seiner Frau unternommen hatte. Eine Öko-Wandertour durch den Dschungel am Amazonas, mit Rucksack und Teva-Sportsandalen durch die unberührte Natur. Die beiden waren begeistert von der Flora und Fauna, die sie zu sehen bekamen. Seine Frau entdeckte einen kleinen goldfarbenen Affen, der im Geäst eines Baumes am Wegrand herumturnte, und blieb stehen, um seine Künste zu bewundern. Plötzlich sprang der Affe vom Baum herab, direkt auf die Frau meines Freundes, packte ihren Poncho und krallte sich daran fest. Er hatte es auf ihre Ohrringe, ein Paar goldene Kreolen, abgesehen. Während der Affe an der Frau hochzuklettern versuchte, zog sich der Poncho immer enger zusammen, wie eine Zwangsjacke, so dass sie ihre Arme nicht mehr bewegen konnte, um ihn selbst abzuwehren. Sie schrie und James eilte ihr zu Hilfe, doch jedes Mal, wenn er den Affen wegzerren wollte, wurde er gebissen. Schließlich holte er aus und schlug das Tier mit voller Wucht ins Gesicht. Der Affe war einen Moment lang wie gelähmt, doch er ließ nicht los, seine Klauen gruben sich in den Poncho, in das Fleisch der Frau. James versetzte ihm abermals einen Faustschlag, doch der Affe brüllte nur und versuchte, die Ohrringe zu packen. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, zog James seinen Schuh aus und begann, ihn dem Affen über den Schädel zu dreschen.
»Da stehe ich also mitten im Dschungel am Amazonas«, erzählte er mir, »umgeben von extrem friedvollen, grün angehauchten Touristen aus zivilisierten Gegenden wie Berkeley und Seattle, auf einer herrlichen Reise mit haut nahem Kontakt zur Natur und zahlreichen Schnappschüs sen, und wie der Blitz aus heiterem Himmel schlägt die Stimmung um. Ich habe meinen linken Schuh in der Hand und prügele auf dieses boshafte kleine Ungeheuer ein, dass ihm Hören und Sehen vergeht.«
Genauso fühle ich mich jetzt. Gerade saß ich noch bei einem köstlichen, wenn auch bizarren Mittagessen mit meiner sympathischen neuen Freundin und urplötzlich bin ich das Kapitalistenschwein, das vor dem aufgebrachten Mob die Flucht ergreift.
»Was ist denn nur passiert, um Himmels willen?«
»Wohin hat die Frau dich gebracht?«
»Das sagte ich doch schon, zu sich nach Hause, zum Mittagessen.«
»Lass mich raten. Ihre Wohnung war ziemlich geräumig und mit allen Errungenschaften des modernen Lebens ausgestattet. Sie hat dir eine ausgezeichnete Mahlzeit serviert. Irgendetwas stimmte nicht ganz, ohne dass du genau sagen konntest, was. Insgesamt hattest du den Eindruck, dass es ihr finanziell gut geht, dass es ihr an nichts mangelt. Irgendwann wollte sie von dir wissen, wie dir China gefällt, und dann erzählte sie ganz beiläufig, wie gut der Damm für das Land und wie glücklich die chinesische Bevölkerung ist.«
»Woher weißt du das?«
»Sie arbeitet für die Regierung.«
»Ein Spitzel?«
»Sozusagen. Hier haben viele Leute die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Ausländer einen positiven Eindruck mit nach Hause nehmen. Als sie dich schreiben sah, hielt sie dich vermutlich für eine Reporterin.«
»Wie bist du ihr auf die Schliche gekommen?«
»Als ich zum ersten Mal geschäftlich nach China reiste, konnte ich viel Geld dafür ausgeben, Kontakte zu knüpfen. Ich lernte eine Menge Leute kennen. Natürlich erregte ich Aufmerksamkeit. Wenn ich mich mit vierzig Personen in einem Raum befand – sagen wir, bei einer Besprechung oder Party –, konnte ich mit Sicherheit
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