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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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sein Sohn stark und gesund, sein Leben alles, was sich ein Mann erträumen kann. »Komm nach Taiwan zurück«, schrieb er. »Arbeite für mich.«
    »Was hatte ich in den vergangenen drei Jahren anderes getan als für ihn gearbeitet?«, sagte Mr. Lee. »Im Schweiße meines Angesichts hatte ich geschuftet und Opfer gebracht. Die Haut an meinen Händen schälte sich durch das Bleichmittel ab, mit dem ich die Wäsche der Studenten wusch, und ich hatte Tränensäcke unter den Augen in Folge des Schlafmangels. Ich hatte so gut wie nichts für mich selbst verbraucht, hatte mich mit kargen Essensrationen, einer neuen Hose und ein Paar Schuhen, zwei neuen Hemden und einer dünnen Jacke für den Winter begnügt. Alles andere hatte ich für meinen Bruder gespart, damit er nach Amerika kommen konnte. Und nun besaß er die Unverfrorenheit, mir vorzuschlagen, ich solle meine eigenen Träume aufgeben und für ihn in Taiwan arbeiten.
    An jenem Tag schwor ich mir, niemals zurückzukehren«, sagte Mr. Lee.
    Lange nach Mitternacht hörten wir endlich, wie sich Mr. Lee aus seinem Schaukelstuhl erhob und zwei Paar Füße den Gang entlang zum Schlafzimmer tappten. Wir hörten, wie das Bett rhythmisch gegen die Wand schlug, hörten Mr. Lees unterdrücktes Schluchzen und Mrs. Lees leise Beschwichtigungen. Wir lagen in Amanda Ruths Bett und klammerten uns aneinander. In jener Nacht träumte ich von der Tante, die Amanda Ruth nie gekannt hatte, wie sie nackt auf einem Bett lag, während sich die japanischen Soldaten reihenweise über sie hermachten, kamen und gingen, kamen und gingen, ein elfjähriges Mädchen mit ausgetrockneter Kehle, der Körper ein Stück rohes Fleisch, die Lippen des kleinen Mundes aufgeplatzt und blutend. Als ich im Morgengrauen erwachte, war Amanda Ruth bereits aufgestanden und saß vor dem großen runden Spiegel der weißen, aus Weide geflochtenen Frisierkommode. Sie musterte ihr Gesicht so eindringlich, dass sie nicht einmal merkte, wie ich aufstand.
    »Mir gefällt der gelbe Farbton seiner Haut«, sagte sie schließlich. »Mir gefällt die Form seiner Augen und seiner Nase. Doch ich habe immer gewusst, dass er genau das an mir hasst, wenn er mich ansieht.«

21
    Am Abend vor der Einfahrt in die Drei Schluchten nehme ich den silbernen Schlüssel aus der Innentasche meiner Handtasche, öffne den Schrank und stecke den Schlüssel in das Schloss des Miniatur-Safes. Quietschend geht die Tür auf. Dort, im Safe – die rote Blechdose. Ich stelle sie auf den Tisch neben dem Bullauge und lasse meine Finger über die Fotocollage gleiten, die ich in- und auswendig kenne – Amanda Ruth als Baby, auf den Armen ihres stolzen Vaters, Amanda Ruth in ihrem Majorettenkostüm mit goldenen Schnüren an den Schultern, Amanda Ruth auf dem schmalen Bett ihres Zimmers im Studentinnenwohnheim in Montevallo sitzend. Ich fühle mich heute noch im gleichen Maß zu Amanda Ruth hingezogen wie damals mit siebzehn. Ich kann nicht umhin, mich zu fragen, was für einen Verlauf mein Leben genommen hätte, wenn sie nicht ermordet worden wäre. Hätte ich die Erinnerung an sie schließlich in einen Winkel meines Herzens verbannen können, welcher der ersten Liebe, den kindlichen Schwärmereien vorbehalten ist? Oder hätte mich ihr Bild selbst dann noch verfolgt?
    Dave steht unter der Dusche. Ich höre das Wasser rauschen, dann wird der Hahn zugedreht, gleich darauf ertönt das Summen des elektrischen Rasierapparates und zum Schluss das Knistern des Kammes, mit dem er in aller Eile durch sein dichtes Haar fährt.
    Ich blicke aus dem Fenster, sehe allerdings bloß mein eigenes Spiegelbild. Ich hasse dieses vertraute Gesicht – die müden Augen, die Grübchen, die sich allmählich zu einer bleibenden Einrichtung entwickeln, die Haare, die ich mir nach dem einunddreißigsten Geburtstag viel zu kurz abschneiden ließ und die sich jetzt über meinem Kragen ringeln. Ich hasse mich selbst, weil ich nicht bereit gewesen war, Amanda Ruth Treue zu schwören, obwohl ich weiß, dass es ein unhaltbares Gelöbnis gewesen wäre. Dennoch, wenn ich geschworen hätte, hätte sie Allison in den Weihnachtsferien nicht mit nach Hause gebracht. Und die beiden wären nicht in Amanda Ruths Schlafzimmer miteinander erwischt worden.
    Ich stelle mir vor, wie Mr. Lee durch den Gang seines geräumigen Hauses in Mobile geht, eine verdächtige Stille im Zimmer seiner Tochter bemerkt und die Tür aufstößt. Ich stelle mir vor, wie er den Raum mit den blassgrünen Wänden und den

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