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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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nie etwas gehört hatte –, der ihm mitgeteilt hatte, dass sein Vater gestorben war.
    »Ich wusste gar nicht, dass dein Vater noch lebte«, sagte Mrs. Lee. »Oder dass du einen Bruder hast.« Amanda Ruth sah mich an, während ihr klar wurde, dass ihre Mutter genauso im Dunkeln tappte wie sie, was Mr. Lees Vorleben und seine Familie in China betraf. Amanda Ruth hatte dutzende von Büchern über chinesische Geschichte verschlungen, hatte seitenweise Daten und die Namen von Ortschaften, Dynastien und einander befehdenden Parteien auswendig gelernt, als sei in diesen komprimierten Informationsbruchstücken der Schlüssel zu ihrer eigenen Seele zu finden. Sie wusste um die grauenhaften Zeiten, die ihre Großeltern miterlebt hatten – japa nische Besatzung, der Große Sprung Vorwärts, die Kultur revolution. Sie hatte immer geglaubt, die Eltern ihres Vaters wären beide tot.
    Mrs. Lee, die mit allen Privilegien einer Tochter aus gutem Hause in den Südstaaten aufgewachsen war, und die durch ihre Ehe mit einem Mann, den sie hinter vorgehaltener Hand »Schlitzauge« nannten, ihrer Familie und der ganzen Stadt die Stirn geboten hatte, eine Frau, die nie ihre Stimme gegen ihren Ehemann erhob, sondern stets darauf bedacht war, ihm einen sicheren Hafen in einer kleingeistigen Welt zu bieten, in die es ihn ihretwegen verschlagen hatte, wurde plötzlich laut. »Wie konntest du mir das verheimlichen?«
    Mr. Lees Stimme klang erschöpft, als hätte er sie vom Grund eines tiefen Brunnens heraufgezogen. »Glaubst du, ich würde mich gerne daran erinnern? Seit ich nach Amerika kam, habe ich versucht, mir ein neues Leben aufzu bauen, die traurigen Dinge zu vergessen, die vorher waren. Ich habe versucht, meine Familie zu vergessen, besonders meine Schwester.«
    »Eine Schwester«, flüsterte Amanda Ruth. Sie hatte auch nichts von der Existenz einer Schwester gewusst. Auf der anderen Seite der Wand fragte Mrs. Lees Stimme verwundert: »Wo ist sie, diese Schwester?«
    »Ich habe sie nie kennen gelernt«, sagte Mr. Lee. »Sie ist dreizehn Jahre älter als ich. Bei meiner Geburt lebte sie bereits in Shanghai.«
    »Warum hat sie ihr Elternhaus schon so früh verlassen?«
    Mr. Lees Stimme schwankte, als er von dem Tag im Jahre 1943 erzählte, als Männer aus der Stadt in seinem Heimat dorf auftauchten. Die Männer, gut gekleidet und zuvorkommend, gingen in die Schule und wählten ungefähr dreißig Mädchen aus, die jüngsten und hübschesten. Sie versprachen den Eltern, die Mädchen nach Shanghai mitzunehmen und ihnen Arbeit in Seidenfabriken zu verschaffen. Sie stellten ihnen eine gute Bezahlung, eine saubere Unterkunft und reichlich zu essen in Aussicht.
    »Chunxiao war damals elf Jahre alt«, sagte er. »Ein Kind. Sie wollte nicht weg, doch meine Eltern bestanden darauf. Erst Jahre später entdeckten wir, dass alle Mädchen in Lager geschickt worden waren, die von japanischen Soldaten geleitet wurden.«
    »Die Trostfrauen!«, flüsterte Amanda Ruth entsetzt. Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte. Auf der anderen Seite der Wand herrschte lange Zeit Schweigen, dann ertönte Mrs. Lees Stimme, ungläubig. »Mein Gott. Deine Schwester war in den Camps, wo die Mädchen zur Prostitution gezwungen wurden.«
    »Sie war jünger als Amanda Ruth heute«, sagte Mr. Lee. Ein sonderbarer, erstickter Laut drang durch die Wand. Mr. Lee weinte. Amanda Ruth und ich saßen wie versteinert auf dem Bett, das Ohr an die Wand gepresst, bestürzt über die Flut von Worten und Gefühlen seitens eines Mannes, der sonst ziemlich einsilbig war. »Sie wurden wie Tiere behandelt, schlimmer noch als Tiere.«
    Wir hörten, wie Mrs. Lees Hausschuhe über den Fußboden schlurften. Ich stellte mir vor, wie sie sich neben Mr. Lees Schaukelstuhl stellte und ihm die Hände auf die Schultern legte. »Es ist ein Wunder, dass sie das überlebt hat«, sagte Mrs. Lee.
    Mr. Lee sagte, das Lager, in dem sich seine Schwester befand, sei verhältnismäßig früh von den Alliierten befreit worden. Sie wurde nach Shanghai in ein Krankenhaus geschickt, wo sie Arbeit fand. Die Familie hielt sie für tot. Jahre nach dem Krieg, als Mr. Lees Schwester in den Dreißigern war, schrieb sie einen Brief an ihre Eltern. Zu dem Zeitpunkt war die Mutter bereits verstorben, sie war während einer Überschwemmung ertrunken. Der Vater erlitt einen lebensgefährlichen Schock, als er die Nachricht erhielt. Er setzte sich mit Mr. Lees Bruder in Taiwan in Verbindung, der nach Shanghai reiste, wo er seine

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