Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
Arme um ihn, zufrieden und zugleich schuldbewusst wegen meines Verhaltens. Er umarmte mich ebenfalls, dann küsste er mich auf die Wange, eine flüchtige Berührung.
»Danke«, sagte er. »Und verzeih mir bitte.« An der Tür deutete er auf das Buch Mormon, das noch auf dem Kopfkissen lag. »Bitte lies das Buch. Es wird dein Leben von Grund auf verändern.« Er zog die Tür hinter sich zu und ging, ließ mich mit einem seltsamen Gefühl der Enttäuschung und Leere zurück. Ihn zu verführen war keine echte Herausforderung gewesen, der Panzer seiner Religion war zu leicht durchlöchert. Irgendwie hatte ich mir gewünscht, er möge heldenhaft Widerstand leisten. Ich wollte die Standfestigkeit im Glauben in der Praxis erleben, einen Beweis aus erster Hand für seine Berufung.
Als er weg war, blätterte ich Die Frohe Botschaft durch. Überall waren Zeichnungen von blonden Menschen, die beteten, von blonden Familien, die ein Picknick veranstalteten, von blonden Kindern, die lächelten und seilhüpften, während das Buch Mormon über ihren Häuptern schwebte.
Yuk Ming blätterte ebenfalls, in ihrer eigenen Broschüre, deutete auf Fotografien von chinesischen Männern und Frauen, die lächelten, chinesischen Familien, die in ihrer neuen Küche aßen, und chinesischen Kindern, die sich auf den zubetonierten Spielplätzen ihrer neuen Wohnsiedlungen tummelten. Mir geht der Gedanke durch den Kopf, dass der Kerngehalt der Propaganda weltweit der gleiche ist, eine allgemein gültige Sprache des entschlossenen, verzweifelten Überzeugungswillens, mögen die Strategien noch so vielfältig und die angepeilten Ziele und Zwecke noch so unterschiedlich sein.
»Schauen Sie, wundervolles Projekt«, sagt Yuk Ming. »Wird Wohlstand und Fortschritt für Volk bringen.«
Lächelnd lege ich die Broschüre auf den Tisch zurück. »Ling Bau mag gut sein, doch das ist nur der Anfang. Die Zeit wird knapp. Glauben Sie wirklich, dass die Regierung ihr Versprechen halten kann?«
Sie lächeln beide so strahlend, dass ihnen das Gesicht wehtun muss. Das Lächeln hat, genau wie der Computer und die Mickey-Maus-Bettwäsche, eine nicht ganz echte Note. »Regierung hält immer Wort«, sagt Wang. »Sie wer den sehen. Der Damm wird achtes Wunder der modernen Welt.«
Er erhebt sich aus seinem Sessel und setzt sich zu mir auf das Sofa. Szenen von den Bekehrungsversuchen in meiner Jugend tauchen wieder auf, wenn der Van for the Lord freitags abends vor der Tür hielt, die Kinder der Bay View Baptist Church mein Elternhaus überschwemmten und mich nötigten, stillzusitzen und mit ihnen zu beten. »Zukunft ist strahlend«, sagt Wang und rückt zentimeterweise näher. Sein Atem riecht nach Flying Dragon Pfefferminzpastillen. »Zukunft ist erfüllt mit Versprechen von Vier Modernisierungen: Landwirtschaft, Verteidigung, Wis senschaft und Technologie.«
»Ja«, fügt Yuk Ming hinzu. Ihre Stimme wird butterweich, als sie meine Hand drückt. »Und natürlich mit Fünf Lieben. Liebe zu Arbeit, Liebe zu Volk, Liebe zu Nächsten, Liebe zu Wissenschaft und Liebe zu Gemeineigentum.«
Ich fühle mich einen Moment lang an die Amway-Verkaufspartys erinnert, ich erkenne, dass ich unter dem Deckmäntelchen der Gastfreundschaft hierher gelotst wurde, obwohl mir die beiden in Wirklichkeit etwas aufschwatzen wollen. Ich blicke auf meine Uhr. »Ich muss los.«
»Natürlich«, sagt Yuk Ming. »Ich begleite.«
»Sie müssen wieder besuchen kommen!«, sagt Wang. »Nächstes Mal bringen Sie Ihr Kamera. Sie machen Bilder von Wohnung, um zu zeigen Ihre Freunde in Amerika!«
Der Regen hat aufgehört und die Luft riecht frisch. Ich bin froh, nicht mehr in der Wohnung zu sein, weg von Wang, und mit Yuk Ming, die mich behandelt, als würden wir uns seit langem kennen, alleine ein paar Schritte zu Fuß zu gehen. Sie spricht über amerikanische Kinofilme. »Ich liebe Titanic und Vom Winde verweht«, sagt sie. Ich erzähle ihr, dass einer meiner Lieblingsfilme in den letzten zehn Jahren Tiger & Dragon war.
»Ja!«, sagt sie aufgeregt und hakt sich unter. »Das war sehr guter Film. Ich liebe amerikanische Schauspieler. Brad Pitt ist sehr gut aussehen, und Tom Cruise.« Wir gehen auf einem anderen Weg zum Park zurück und als wir die Bank erreichen, ist Graham bereits da.
»Ich hoffe, du wartest noch nicht allzu lange«, sage ich.
»Nur ein paar Minuten«, sagt er und mustert Yuk Mings Füße.
»Ist Ihr Ehemann?«, fragt Yuk Ming.
»Nein, ein Freund vom Schiff. Graham, Yuk
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