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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Schwester als Toilettenfrau in einer Klinik vorfand. Er flehte sie an, mit ihm nach Taiwan zu kommen, ver sprach ihr ein sorgenfreies Leben im Kreise seiner Familie, doch sie weigerte sich. Sie konnte nach allem, was ihr widerfahren war, die Nähe anderer Menschen nicht mehr ertragen. Im Laufe der Jahre schrieb er ihr dutzende von Briefen aus Taiwan, doch sie antwortete nie.
    »Letzte Woche erhielt mein Bruder einen Brief, in dem sie ihm mitteilte, dass sie letztendlich doch in ihr Heimatdorf zurückgekehrt sei«, sagte Mr. Lee. Die Bambushütte, in der sie ihre Kindheit verbracht hatte, war verschwunden. Sie sah bekannte Gesichter in den Straßen, doch niemand erkannte sie. Im Kreiskulturreferat blätterte sie die Sterberegister durch. Sie fand den Namen ihres Vaters – er war erst vor einem halben Jahr gestorben.
    An jenem Abend, als wir in der Dunkelheit an der Wand lauschten, erfuhren wir die Lebensgeschichte von Mr. Lee – das Leben, das er vor Amanda Ruths Mutter und vor San Francisco geführt hatte. Mit sechs wurden Mr. Lee und sein neunjähriger Bruder nach Taiwan geschmuggelt. Für die Schiffsreise mussten die Brüder eine horrende Summe aufbringen, Geld, das ihnen der Bruder ihrer Mutter, ein Ladenbesitzer in Taipeh, geschickt hatte. Dort angekommen, irrten die beiden durch die Straßen von Taipeh, in denen es von Waisenkindern nur so wimmelte.
    »Woran ich mich am besten erinnere, ist das Geräusch von Schuhen«, sagte Mr. Lee. »Die Taiwanesen trugen Holzsandalen im japanischen Stil, die auf den Straßen klapperten.«
    Nach zweiwöchiger Odyssee fanden sie einen Schlachter, der ihren Onkel kannte. Der Schlachter wies ihnen den Weg zum Haus ihres Onkels. Sie kamen barfuß dort an, in Lumpen, ungewaschen und hungrig. Der Onkel nahm sie auf, gab ihnen zu essen und schickte sie zur Schule, doch ihre Tante und die Cousins und Cousinen hassten die beiden Jungen. Sie schliefen draußen neben der Latrine und nach der Schule streunten sie durch die Straßen und verkauften alles, was nicht niet- und nagelfest war aus dem Haus ihres Onkels: Bindfäden, ein angefaultes Ei, eine Hosentasche voll Reis. Obwohl er nebenbei hart arbeiten musste, war Mr. Lee ein herausragender Schüler. Mit sechzehn hatten er und sein Bruder genug Geld auf die Seite geschafft, um die Schiffspassage für eine Person nach Amerika zu bezahlen. Sein Bruder beharrte darauf, dass Mr. Lee mit seiner angeborenen Intelligenz die besten Chancen hatte, es in Amerika zu etwas zu bringen. Mr. Lee gelobte, seinen Bruder nachkommen zu lassen, sobald er genug Geld beisammenhätte. Mr. Lee war während des größten Teils der Reise seekrank und erbrach die winzigen Rationen von verdorbenem Reis, der mit fauligem Wasser zubereitet war. Als er in Amerika ankam, hatte er fünfzehn Kilo abgenommen.
    »Ich war zum Skelett abgemagert. Doch ich hatte es geschafft, ich war in Amerika.«
    Er arbeitete vierzehn Stunden am Tag in einer Fabrik, die Spulen herstellte und bot zusätzlich per Aushang am schwarzen Brett den begüterten Studenten der University of San Francisco an, die Wäsche für sie zu waschen. Drei Jahre lang hatte er nur zwei Dinge im Kopf. Zum einen war er bestrebt, die Armut aus eigener Kraft zu überwinden und im Leben Erfolg zu haben. Zum anderen galt es, das Versprechen einzulösen, das er seinem Bruder gegeben hatte.
    In San Francisco kam Mr. Lee mit wenig Schlaf und noch weniger Essen aus, sparte eisern und konnte seinem Bruder drei Jahre später schreiben, nun sei es endlich so weit. Er würde ihm das Geld für die Überfahrt nach Amerika schicken. Es dauerte sechs Monate, bis sein Bruder ihm antwortete. Mr. Lee kochte eine Kanne Tee, setzte sich auf das Feldbett, das ihm in dem gemieteten Souterrain-Zimmer als Schlafstätte diente, und riss den Brief auf. Er hatte Angst zu träumen, weil er seinen Bruder nach dem langen Schweigen für tot gehalten hatte.
    Sein Bruder hatte geheiratet. Er hatte ein Kind, einen Sohn. Und nicht nur das: Er hatte auch einen kleinen Laden eröffnet, in dem er Ming-Vasen, antike Stühle und andere Kunstobjekte von chinesischen Verwandten, die keine Verwendung dafür und sie außer Landes geschmuggelt hatten, verkaufte. Taiwan stand bei den wohlhabenden britischen und amerikanischen Touristen als Reiseziel hoch im Kurs. Sie strömten in seinen Laden und nahmen die Waren in Augenschein, von denen einige echte Antiquitäten und andere billige Imitate waren. Und sie zahlten horrende Preise. Seine Frau war schön,

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