Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
er bis auf den Grund meiner Seele schauen. Wir haben uns immer mit offenen Augen geliebt.
Das Schiff schaukelt, der Motor dröhnt, der Regen pras selt gegen die kleinen runden Bullaugen. Draußen trostlose Dunkelheit. Drinnen das gelbliche Licht einer vereinzelten Lampe. Die ganze Welt riecht nass, verbraucht, missgestimmt. Zum ersten Mal seit Jahren kommen Dave und ich gemeinsam. Dave bäumt sich auf, drückt mich an sich, verbirgt sein Gesicht in meinen Haaren. »Baby«, murmelt er.
Ich denke an unsere erste Begegnung an einem Brezel stand auf dem Bürgersteig vor dem Hunter College. Er trug eine braune Wildlederjacke, die ihm ein wenig zu groß war, und einen Zweitagebart. Er sah träge aus, doch gleichzeitig auf dem Sprung, als beobachte er die Straße, bereit, beim ersten Anzeichen einer Katastrophe in Aktion zu treten. Als sich unsere Blicke trafen, errötete er – später erzählte er mir, ich hätte ihn mit meinem eindringlichen Blick völlig aus dem Gleichgewicht gebracht –, doch er gewann seine Fassung bald zurück, bezahlte den Straßenhändler, klatschte Senf auf seine Brezel, kam zu mir herüber und sprach mich an.
Es kommt mir wie Verrat vor, mit Dave eine Fahrt auf diesem Fluss zu machen, Amanda Ruths Fluss, während sich an Bord ein weiterer Mann befindet, für den ich Zuneigung empfinde. Doch kein einziger Mann wird jemals die Stimme in meinem Kopf hören, die einen endlosen Monolog hält, die Stimme, die unüberhörbar zu Amanda Ruth spricht, sie um Vergebung bittet.
Amanda Ruth, weißt du, was du angerichtet hast? Es gelingt mir nicht, meine Beine für einen Mann zu öffnen, ohne den gelben Schal vor mir zu sehen, mit dem schlichten Muster aus kleinen weißen Blüten. Es gelingt mir nicht, einen Mann zwischen meinen Schenkeln zu halten, ohne mir eine Szene vorzustellen, die sich nie zugetragen hat: meine Hände an deinem Hals, die den Schal fester ziehen, fester und fester, bis du nicht mehr atmen kannst.
22
Ich wache auf, Daves Arme um mich. Wir haben die Laken mit Fußtritten aus dem Bett befördert, unsere Füße sind miteinander verschlungen. In den ersten Jahren unserer Ehe wachte ich morgens oft auf, lag im Bett und betrachtete ihn, während er schlief. Ich dachte, wie perfekt alles war – und wie zerbrechlich. An solchen Tagen bangte ich um ihn. Ich dachte an die Unfälle, in die er verwickelt werden könnte, wenn er durch das Verkehrsgewühl in den Straßen raste, stellte mir vor, wie die Ambulanz frontal mit einem Taxi zusammenprallte, wie sich die Reifen drehten, die Scheinwerfer flackerten, wie Daves Sitzgurt riss und sein Kopf mit voller Wucht die Windschutzscheibe durchschlug. Ich stellte mir die Stadtteile vor, in die er während seiner Einsätze fuhr, Slums, die selbst von den Streifenpolizisten gemieden wurden, wie Bedford Stuyvesant, im Osten New Yorks, das größte Schwarzenviertel der Stadt, wo ihm nur seine Arbeitskluft Schutz bot. Ich dachte an Messer und Handfeuerwaffen, an infizierte Nadeln, an denen er sich verletzen konnte. Jeden Morgen, wenn ich aufwachte, betete ich darum, ihn nicht zu verlieren. Ich dachte an die unzähligen Katastrophen, die unser Leben zerbrechen, die Klarheit und Ordnung unserer kleinen Welt zerstören konnten. Damals wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass viele Verluste allmählich eintreten, so schleichend, dass man sie kaum bemerkt. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass sich manche Dinge einfach in nichts auflösen.
Ich atme seinen Duft ein, den bittersüßen Duft nach Seife und Schlaf. Ich löse seine Arme von meinem Körper und verlasse lautlos das Bett, dusche und ziehe mich an, ohne ihn aufzuwecken und küsse ihn auf die Stirn, bevor ich gehe.
Um 5:30 Uhr stehe ich an der Reling, die Blechdose in meinen Armen, als Die Stimme über Lautsprecher verkündet: »Bitte alle kommen an Deck, wir beginnen faszinierende Fahrt durch herrliche Schluchten.« Ich hatte geplant, die Asche zu verstreuen, bevor die anderen Passagiere aufwachen, doch dafür ist es zu spät. Binnen Minuten tauchen die Leute aus ihren Kabinen auf, wie Zombies, die Gesichter noch gezeichnet vom Schlaf. Ich schiebe die Dose unter meine Jacke. Graham erscheint neben mir.
Vor uns ragt eine Betonmauer auf, das Hebewerk des Gezhou-Dammes, das nur wenige Meilen vom neuen Stau damm flussabwärts entfernt liegt. Wir fahren durch ein schmales Stahltor in eine weitläufige Schleusenkammer hinein, wo sich bereits Schiffe aller Größenordnungen eingefunden haben. Das
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