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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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verborgenen Fotos von China betritt und seine Tochter und Allison entsetzt anstarrt. Welcher Teufel mag Amanda Ruth geritten haben, ein derartiges Risiko einzugehen? Als hätte sie es darauf angelegt, ertappt zu werden, als hätte sie ihrem Vater ihre Sexualität vor Augen halten und sagen wollen: »Schau her, so bin ich und nicht anders!«
    Mr. Lee war kein Mann, der sich ausgiebig mit seiner Tochter unterhielt. In all den Jahren, die ich Amanda Ruth kannte, hörte ich ihn nur selten eine Frage an sie richten, die über ihre schulischen Leistungen hinausging. Vielleicht bewog ebendiese Gewissheit, dass keine Aussicht auf ein klärendes Gespräch bestand, Amanda Ruth zu einer solchen Unverfrorenheit in ihrem eigenen Elternhaus, einem Akt der Verzweiflung, denn sie musste sich ausgerechnet haben, wie groß die Gefahr war, entdeckt zu werden. Wenn sie ihm nicht sagen konnte, dass sich ihr Herz und ihr Körper nicht nach Männern, sondern nach der Gesellschaft anderer Frauen sehnten, musste sie es ihm eben zeigen.
    Ich habe diese Szene hunderte von Malen Revue passieren lassen und bin mir sicher, ich hätte sie verhindern können. Wenn es mir möglich gewesen wäre, das zu sein, was sich Amanda Ruth wünschte – eine Freundin, eine Partnerin, eine beständige Größe in ihrem Leben –, wäre sie an jenem Tag nicht mit Allison in ihrem Zimmer gewesen. Wenn es mir möglich gewesen wäre, ihr treu zu sein, wäre sie nicht tot.
    Die Badezimmertür geht auf. Dampf quillt aus der Dusche. Der Geruch nach Seife, das Wissen um Daves sauberen, nackten Körper in diesem winzigen Raum, sein leichter Schritt auf dem Teppich.
    »Hey«, sagt er. »Weinst du?«
    Und dann Daves vertraute Gestalt hinter mir, seine starken Hände auf meinen Schultern, die Wärme seines Atems auf meinem Nacken, seine Finger, die langsam über meinen Rücken streichen, mein Schlüsselbein berühren. Es kommt mir völlig natürlich vor, wie sein Körper den leeren Raum hinter mir füllt, wie mich seine Arme umfangen, wie er sagt: »Baby, alles in Ordnung?«
    Er wartet die Antwort nicht ab. Seine geschickten Finger öffnen den Reißverschluss meines Kleides, die Haken mei nes Büstenhalters, der ganze Stoff, klamm vom Regen, gleitet an mir herab, seine warmen Hände übernehmen die Regie. Ich drehe mich um und löse das Handtuch, das er um seine Taille geschlungen hat. Lange Zeit stehen wir da und küssen uns, unsere Körper neigen sich im Einklang mit jeder Bewegung des Schiffes, das auf und ab schaukelt. Zu Beginn unserer Beziehung, als wir anfingen, miteinander zu schlafen, ging alles immer sehr schnell. Sein Arm, der versehentlich den meinen streifte, ein Kuss auf den Nacken, seine Hand, die plötzlich auf der Innenseite meines Schenkels lag – jede Berührung vermochte die Glut in uns zu entfachen. Wir liebten uns, als liefe eine Stoppuhr mit, die uns jede Sekunde unterbrechen konnte. Doch die Jahre, in denen wir miteinander aufwachten, spazieren gingen, morgens beim Kaffeetrinken Zeitung lasen, Seite an Seite im Auto saßen, Brote mit Erdnussbutter an dem kleinen Tisch mit Blick auf die Columbus Avenue aßen – all diese gemeinsamen Aktivitäten im Alltag und deren kumulative Wirkung haben uns Geduld beim Liebemachen gelehrt. Es dauert einige Zeit, bevor wir auf dem Bett landen, und dann passen wir uns dem langsamen, vertrauten Rhythmus an. Heute macht sich noch mehr Geduld als sonst bemerkbar. Wir beide wissen, auch ohne Worte, dass es das letzte Mal ist.
    Rittlings auf ihm sitzend, seine Hände auf meinen Brüsten, meine Knie gegen seinen Brustkorb gepresst, wird mir klar, wie schwierig es ist, ein solches Ausmaß an Intimität und Nähe mit einem anderen Menschen zu erreichen. Zwölf Jahre lang haben wir nicht nur das Bett miteinander geteilt, sondern auch unsere absonderlichsten und schönsten Fantasien. Wir kennen die Vorlieben des anderen besser als unsere eigenen. Es gibt kein Erröten, kein Leugnen, keinen Augenblick, in dem der eine fürchtet, der andere könnte einen Wunsch merkwürdig oder selbstsüchtig finden. Ein Vorteil der Ehe ist das Recht, sich wie ein verheiratetes Paar zu lieben. Was ich am Ende unserer Beziehung am meisten fürchte, ist die Notwendigkeit, wieder bei null anzufangen, den Geschmack des anderen von Grund auf zu erforschen, einem Fremden beizubringen, die gleichen Gefühle wie Dave in mir hervorzurufen. Seine Hände gleiten zu meinen Hüften, seine Finger bohren sich in meinen Rücken. Er blickt mich an, als könnte

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