Im Blut vereint
»Ich merke selbst, dass die Kindheit mir immer wichtiger wird, je älter ich werde. Und meine Schwester ist so verwirrt, dass sie Trost in ganz einfachen Dingen sucht.« Sie machte eine Geste Richtung Garten. »Sie gräbt gern in der Erde.«
Alaska spürte, dass die Gefahr vorbei war, und begann im Hof herumzuschnüffeln.
»Ihr Hund tut doch nichts?«, fragte Enid und trat zwischen Alaska und ihre Schwester. Kate folgte ihr rasch.
Alaska ignorierte die beiden Fremden. Sein ganzes Interesse galt jetzt einem Haufen durchweichter Blätter.
»Nein. Bis jetzt war er immer brav.« Kate trat von einem Fuß auf den anderen. Der Boden war eiskalt.
»Ach. Haben Sie ihn noch nicht lange?« Enid blickte ihn neugierig an.
»Ich habe ihn vor ein paar Wochen adoptiert«, sagte Kate voll Stolz auf ihren schönen, sanften Riesen. »Er heißt Alaska.«
»Hat er nicht vorher Margery Thompson gehört?«, fragte Enid. »Ich glaube, ihr Hund sah ganz ähnlich aus.«
Kate nickte. »Ja, nach ihrem Tod ist er immer wieder hierher zurückgekommen. Also habe ich ihn behalten.«
Enid verzog missbilligend den Mund. »Ich habe ja gleich nicht verstanden, warum sich eine alte Dame wie sie einen so jungen, verspielten Hund anschafft. Das passt doch nicht.« Sie zuckte die Schultern. »Aber vermutlich hatte sie ihn gern um sich.«
Kate lächelte. »Ich habe ihn auch gern um mich. Er hält mich auf Trab.« Sie dachte an die zerfetzte Zeitschrift, die sie heute Abend unter dem Küchentisch gefunden hatte. »Und er liest gern.«
»Also, es tut mir leid, dass wir Sie ungewollt geweckt haben, Kate.« Enid lächelte entschuldigend. »Wir gehören jetzt ins Bett.« Sie ging zu ihrer Schwester hinüber und nahm sie sanft am Arm. »Zeit, nach Hause zu gehen, Mil.« Muriel ließ sich von Enid aufhelfen. Sie war groß, für eine alte Dame sogar sehr groß. Neben ihr sah Enid klein und zerbrechlich aus.
»Muriel, das ist Kate Lange«, sagte Enid. Muriel schaute nicht hoch. Ihr Blick ruhte auf einem Klumpen feuchter Erde in ihrer Hand. Sehr langsam zerdrückte sie ihn zwischen den Fingern zu kleinen Krümeln.
»Hallo«, sagte Kate.
»Ich will eine Tasse Erde haben«, platzte Muriel laut heraus. Sie ballte die Hand zur Faust.
»Ja, meine Liebe.« Enid tätschelte ihr den Arm. »Du bekommst sie, wenn wir wieder zu Hause sind.« Sie führte Muriel langsam zum Gartentor. »Es war schön, Sie wiederzusehen, Kate.« Sie lächelte leicht. »Entschuldigen Sie, dass wir Sie erschreckt haben.«
»Das macht nichts.« Kate erwiderte ihr Lächeln. »Ich bin froh, dass Sie Ihre Schwester gefunden haben.«
Enid blieb am Tor stehen. »Ich hoffe, dass sie Sie nicht noch einmal aus dem Schlaf aufschreckt. Eigentlich halte ich die Türen verschlossen, aber manchmal erinnert sich Muriel daran, wie man das Schloss aufbekommt.«
»Ist schon in Ordnung.« Kates Füße waren taub vor Kälte. Die Zeit bis sechs Uhr früh schwand dahin. »Freut mich, dass wir uns kennengelernt haben.«
»Kommen Sie doch mal auf eine Tasse Kaffee vorbei, meine Liebe.« Enid begleitete Muriel durchs Tor.
»Vielen Dank.« Kate sah den beiden Damen nach. Enid führte ihre größere Schwester vorsichtig die Einfahrt entlang. Trotz des Größenunterschieds und Muriels geistiger Verwirrung bewegten sie sich im gleichen Rhythmus. Offenbar waren sie seit Langem ans Zusammensein gewöhnt und fühlten sich miteinander wohl.
Kate fragte sich, ob Imogen wohl größer als sie geworden wäre. Ob sie Freundinnen geblieben wären. Ob sie im Alter vielleicht auch zusammengewohnt hätten.
Sie wandte sich ab und ging ins Haus. Ihre Füße waren wie erfroren. Wenn sich nur ihr Herz auch so leicht betäuben ließe. Denn der Schmerz wollte einfach nicht nachlassen.
Dienstag, 8. Mai, 13:00 Uhr
Zur Mittagszeit hatte Kate elf Nachrichten auf ihrer Mailbox. Sie war den ganzen Vormittag über nicht im Büro gewesen, sondern hatte beim Familiengericht einen Antrag vorgetragen. Danach hatte sie ihrer Mandantin berichtet, sich einen Salat und einen Kaffee gekauft und beides ins Büro mitgenommen. Nach den ersten Schlucken Espresso fühlte sie sich wieder wach. Letzte Nacht hatte sie nur etwa vier Stunden geschlafen. Am Morgen war ihr beim Aufschlagen der Zeitung die Schlagzeile entgegengesprungen:
Regen nein danke – rufen die Frauen von Halifax.
Und darunter in kleinerer Schrift:
Polizei rät Frauen, in Regennächten zu Hause zu bleiben.
Die Polizei hatte bekannt gegeben, dass der Mörder das Wetter zu
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