Im Blutkreis - Roman
Gassen, die sich auf bunte Suks und Verkaufsbuden öffneten. In der El-Nokraschi-Straße machte er eine kurze Pause am Wagen eines Straßenhändlers und schlang einen Teller dicker, salziger roter Bohnen mit Brot hinunter, Schulter an Schulter mit anderen schweigsamen Männern, die ihn anstarrten, während sie ihre tägliche Mahlzeit kauten. Seine Verabredung mit Darwisch rückte näher. Um zu dem Treffpunkt zu gelangen, nahm er die Salah-Salem-Straße, an der die Überreste des kosmopolitischen Alexandria der dreißiger Jahre, des Alexandria der fünf Nationen lagen. Armenische Juweliere, griechische Zuckerbäcker, Luxusrestaurants, Antiquitätengeschäfte, deren Schilder noch auf Französisch geschrieben waren, eine überlebte, staubige Welt von betörendem Charme. Er ging langsamer, als er an die Kreuzung der Nebi-Danyal- und der Saad-Zaghlul-Straße kam.
Und da sah er die Kuppel, die von blumengeschmückten Kreuzen gekrönten Kirchtürme, die Basreliefs. Die koptische San-Marcos-Kathedrale erhob sich vor ihm in einen vollkommen klaren Himmel.
Die Augen noch geblendet von dem Licht draußen, nahm er zuerst nichts anderes als den gutturalen Singsang wahr, der machtvoll vom Chor aufstieg, eine Psalmodie, deren Rhythmus die Schläge eines Stocks auf den Boden vorgaben. Dann tauchten nach und nach aus der Finsternis die Goldtöne, die Säulen, die mit eingelegtem Elfenbein verzierten Holztäfelungen und die goldbraunen Ikonen auf, die im karminroten Schein der Lüster lebendig zu werden schienen. Nathan bahnte sich seinen Weg durch die dicht gedrängte Versammlung der Gläubigen. Männer und Kinder auf der einen Seite, Frauen auf der anderen, alle standen aufrecht da, die Handflächen nach oben gerichtet, die Augen im Gebet verloren. Er ließ seinen Blick zum Altar wandern, und plötzlich erblickte er das eingefallene
und von einem langen Bart umrahmte Gesicht von Pater Darwisch in den Myrrheschwaden und den Flammen der Kandelaber. Der alte Priester trug ein weißes, mit großen Kreuzen geschmücktes Messgewand und eine kreisrunde, gebauschte Seidenmitra in gleicher Farbe. Um ihn herum knieten die Diakone vor dem geweihten Brot und Wein. Als er seinen Segen beendet hatte, zogen die Männer und Frauen die Schuhe aus und bildeten einen stummen Zug, um den Leib und das Blut Christi zu empfangen. Den Mund mit einem Schleier bedeckt, zogen sie sich in die Meditation zurück und überließen den Frauen den Platz.
Hinter den Säulen versteckt, betrachtete Nathan dieses Bild bedingungsloser Inbrunst, die ihn an diejenige der vergessenen Mönche der Malatestiana erinnerte. Ein reiner, radikaler Glaube, der zu besagen schien, dass die Grundlagen des Lebens, des menschlichen Daseins in der Religion zu finden seien.
Als die Zeremonie sich ihrem Ende näherte, kamen die Gläubigen zu Pater Darwisch, um ihn, die Stirn seinen dunklen Händen entgegengestreckt, zu grüßen, bevor sie mit friedlichem Gesicht die Kathedrale verließen. Nach und nach verstummte das Stimmengewirr, die Lichter gingen eines nach dem andern aus und ließen Nathan im Halbdunkel zurück.
Ein Murmeln ertönte hinter ihm.
»Sind Sie gläubig, Monsieur Falh?«
Nathan drehte sich um und erblickte den Priester, der die Hände in die Ärmel seines Messgewandes geschoben hatte. Von seinem weißen Bart ging ein fahles, fast übernatürliches Licht aus.
»Ich weiß es nicht«, sagte Nathan leise.
»Was beunruhigt Sie so, junger Mann?«
»Ich glaube nicht, dass ich beunruhigt bin …«
»Was bedeutet dann diese Verzweiflung, die ich in Ihrem Blick erkenne?«
Schweigen.
Nathan beobachtete den Priester. Ein Gesicht, durchzogen von unzähligen Runzeln, die die Dunkelheit noch betonte, und seine Augen, zwei schwarze Perlen, die wirkten, als seien sie vor der Welt verschlossen, aber weit geöffnet auf die Wahrheit. Er verzichtete darauf, ein weiteres Mal zu lügen.
»Ich stelle mir gewisse Fragen.«
»Und Sie hoffen, die Antworten vom Herrn zu erhalten?«
»Nein, von Ihnen, Pater.«
»Ich höre.«
Nathan steuerte ohne Umschweife auf sein Ziel zu: »Ich interessiere mich für den magischen Glauben der Kopten, für die Verbindung, die bis heute zu den alten religiösen Kulten der Pharaonen besteht …«
Der Geistliche legte einen Finger auf seine Lippen. »Es gibt Welten, geheime Bereiche, über die man nur im Flüsterton spricht …« Er warf einen Blick zu den Diakonen, die die Utensilien der Göttlichen Liturgie wegräumten, und murmelte:
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