Im Bus ganz hinten
Ausbildung? Ich überlegte nicht lange: »Klar fahre ich mit.« Eigentlich hätte ich an dem Tag zur Arbeit gemusst.
Aber ich hatte keinen Bock mehr, erst recht nicht auf die Abschlussprüfungen, die mir bevorstanden. Mein einziges Problem war, dass ich nicht wusste, wie ich dem strengen Meister Amrouche meine Entscheidung verkünden sollte. Ich nahm zwar den Telefonhörer in die Hand und wählte die Nummer, aber als ich seine tiefe Stimme am anderen Ende der Leitung hörte, legte ich gleich wieder auf. Ich brachte es einfach nicht übers Herz. Trotzdem ging ich nicht in die Werkstatt, sondern setzte mich lieber mit Anis in den Zug nach Hannover. Und die Arbeiten an der CDwaren ein voller Erfolg! Schon zwei Wochen später kamen wir mit einem Album in der Tasche zurück. Es hieß King of Kingz, und bei zwei Songs hatte ich sogar mitgerappt. Anis nannte sich von diesem Zeitpunkt an übrigens Bushido …
Ganz allein …
Endlich hatte ich meine eigene Wohnung. Das Jugendamt hatte sie mir organisiert. Das Gute war: Ich durfte sie allein beziehen und hatte endlich meine Ruhe vor all den anderen Opfern. Das Schlechte: Sie bot nicht viel mehr Komfort als ein Rattenloch. Das Ein-Zimmer-Apartment war 20 Quadratmeter groß, die Fenster waren alt und undicht. Die ganze Zeit pfiff der Wind durch meine Bude, weshalb es im Winter ziemlich kalt war. Die Küche war bei meinem Einzug total schmierig: Staub hatte sich mit altem Fett vermischt und klebte in allen Ritzen. Es roch säuerlich. Im Bad traute ich mich vor lauter Ekel gar nichts anzufassen, die Fliesen waren komplett verschimmelt, und es stank erbärmlich.
Zum ersten Mal in meinem Leben besorgte ich mir deshalb Putzzeug und begann alles zu säubern. Ich schrubbte wie wild. Der Schweiß stand mir auf der Stirn, als ich zum zehnten Mal die Küche polierte. Aber schließlich wollte ich ja hier leben, da musste ich dann auch als Mann mal putzen. Wer sonst?
Möbel standen keine in der Wohnung, und ich hatte kein Geld, um wirklich auf Einkaufstour zu gehen. Die wenige Kohle, die ich hatte, investierte ich lieber in Klamotten, Farbdosen und Musik. Letztendlich schleppte ich bloß eine alte Matratze in mein Apartment – und einen Gettoblaster, ein echtes Billigteil von Aldi, an das ich aber immerhin meinen Technics-Plattenspieler anschließen konnte. Mehr brauchte ich nicht. Den Rest des Raumes nahm mein Vorrat an Sprühdosen in allen Farben ein, die überall verteilt standen. Und weil die Wand im Flur nicht verputzt war, verschönerte ich sie standesgemäß mit einem Graffiti. Ich markierte mein Revier: Jetzt war es meine Wohnung!
Als ich endlich mit dem Umzug fertig war und mich das erste Mal auf meine Matratze fallen ließ, war ich irritiert von der Stille. Plötzlich waren da keine schreienden Heimkinder mehr, die lautstark über den Gang tobten. Und auch keine brüllenden Betreuer, die mich immer so genervt hatten. Das Einzige, was ich hin und wieder durch die dünnen Wände hören konnte, waren die streitenden Nachbarn in der Wohnung rechts neben mir. Sonst nichts. Und auf eine seltsame Art und Weise fühlte ich mich jetzt doch ein wenig einsam. Das wunderte mich, schließlich hatte ich mich auf meine eigene Wohnung gefreut. Was ich nicht bedacht hatte, war der entscheidende Nachteil des Alleinseins: In der Stille konnte ich mich plötzlich nur noch auf mich selbst konzentrieren.
In den nächsten Wochen wurde mir die Einsamkeit immer unangenehmer. Sonderlich viel Besuch bekam ich schließlich auch nicht. Der Einzige, der regelmäßig bei mir vorbeischaute, war der Mensch, der im Rahmen des betreuten Wohnens für mich verantwortlich war: Harald.
Einmal pro Woche sollte er zu mir kommen und nach dem Rechten sehen.
»Hey, wie geht’s?«, fragte er, als er das erste Mal in meiner Tür stand. Wir redeten ein bisschen, und er erklärte mir, wann ich meine Miete zu bezahlen und wie ich mich zu verhalten hätte. Außerdem konnte ich mir einmal im Monat mein Geld bei ihm abholen. Harald war ziemlich in Ordnung. Endlich mal ein normaler Typ, der mir nicht ständig auf den Sack ging und mir relativ viele Freiheiten ließ.
Doch obwohl es mir in meiner neuen Wohnung wirklich sehr gefiel, weckten die Stille und die fehlende Ablenkung etwas in mir, womit ich gar nicht mehr gerechnet hatte: Ich bekam wieder eine Panikattacke. Ich lag auf meiner Matratze und starrte wieder einmal in Richtung Zimmerdecke, da fühlte es sich plötzlich so an, als ob jemand mein Herz zerquetschen
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