Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend
diesem Vortrag allzu große Feierlichkeit. Unsere Blicke kreuzten sich oft. Offenbar war ihr nicht zum Lachen zumute. Im Gegenteil, sie wirkte sehr respektvoll und sogar ein wenig besorgt, den Sinn der Worte nicht zu verstehen. Dieser Ernst übertrug sich allmählich auf mich. Fast schämte ich mich meiner ersten Reaktion. Ich wagte kaum an die Verwirrung zu denken, die ich mit schallendem Gelächter ausgelöst hätte. Und in ihrem Blick glaubte ich eine Art Hilferuf zu erkennen, eine Frage. Verdiene ich es, in eurer Mitte zu sein? Guy de Vere hatte die Finger ineinander verschränkt. Seine Stimme war tiefer geworden, und er schaute sie unverwandt an, als richte er sich einzig und allein an sie. Sie war wie versteinert. Vielleicht hatte sie Angst, er könnte sie mit einer Frage überrumpeln, etwa mit: »Und Sie, ich würde gern Ihre Meinung dazu hören.«
Das Licht flammte wieder auf. Wir blieben noch ein paar Minuten in dem Büro, was ungewöhnlich war. Die Treffen fanden stets im Wohnzimmer statt und versammelten an die zehn Personen. An jenem Abend waren wir nur zu viert, und wegen der kleinen Zahl hatte de Vere es wahrscheinlich vorgezogen, uns in seinem Büro zu empfangen. Und das ganze war nach einer simplen Verabredung zustande gekommen, ohne die übliche Einladung, die man nach Hause geschickt bekam oder in der Buchhandlung Véga erhielt, sofern man regelmäßiger Kunde war. So wie manche hektographierten Texte habe ich auch einige dieser Einladungen aufbewahrt, und gestern ist mir eine davon zufällig in die Hände geraten:
Mein lieber Roland,
Guy de Vere
würde sich über Ihr Kommen freuen
am Donnerstag, den 16. Januar um 20 Uhr
Square Lowendal Nr. 5 (15. Arr.)
2. Gebäude links
3. Stock links
Das weiße Kärtchen, stets im selben Format, und die zierlichen Buchstaben hätten genausogut ein gesellschaftliches Ereignis ankündigen können, einen Cocktail oder eine Geburtstagsfeier.
An jenem Abend hat er uns bis an die Wohnungstür begleitet. Guy de Vere und das Paar, das zum ersten Mal teilnahm, waren gut zwanzig Jahre älter als wir beide. Da der Fahrstuhl zu klein war für vier Personen, sind wir, sie und ich, die Treppe hinuntergegangen.
Ein Privatweg, gesäumt von gleich aussehenden Häusern mit sandfarbenen und ziegelroten Fassaden. Die gleichen schmiedeeisernen Türen unter einer Laterne. Die gleichen Fensterreihen. Nach dem Gittertor stand man vor dem Square an der Rue Alexandre-Cabanel. Es war mir wichtig, diesen Namen aufzuschreiben, denn hier haben sich unsere Wege gekreuzt. Wir haben eine Weile reglos mitten auf diesem Square gestanden und nach Worten gesucht, die wir uns hätten sagen können. Ich habe das Schweigen schließlich gebrochen.
»Wohnen Sie hier im Viertel?«
»Nein, in der Nähe der Place de l’Étoile.«
Ich suchte nach einem Vorwand, mich nicht gleich verabschieden zu müssen. »Wir könnten ein Stück zusammen laufen.«
Wir gingen unter dem Viadukt, am Boulevard de Grenelle entlang. Sie hatte mir vorgeschlagen, zu Fuß der oberirdischen Metrolinie zu folgen, die bis Étoile führte. Sollte sie müde werden, könnte sie den restlichen Weg immer noch mit der Metro zurücklegen. Es muss ein Sonntagabend gewesen sein oder ein Feiertag. Kein Verkehr, und alle Cafés hatten geschlossen. Jedenfalls waren wir damals, zumindest in meiner Erinnerung, in einer nächtlichen, menschenleeren Stadt. Unsere Begegnung erscheint mir, wenn ich heute zurückdenke, wie die Begegnung zweier Menschen, die keine Verankerung hatten im Leben. Ich glaube, wir waren alle beide allein auf der Welt.
»Kennen Sie Guy de Vere schon lange?« habe ich gefragt.
»Nein, ich habe ihn Anfang des Jahres durch einen Freund kennengelernt. Und Sie?«
»Ich? Über die Buchhandlung Véga.«
Sie wusste nichts von dieser Buchhandlung am Boulevard Saint-Germain, deren Schaufenster eine Aufschrift in blauen Buchstaben zierte: Orientalismus und vergleichende Religionswissenschaft . Hier hatte ich zum ersten Mal von Guy de Vere gehört. Eines Abends hatte mir der Buchhändler ein solches Einladungskärtchen überreicht und gesagt, ich könnte zu dem Treffen kommen. »Das ist genau für Leute wie Sie.« Ich hätte ihn gern gefragt, was er unter »Leute wie Sie« verstand. Er musterte mich mit einer gewissen Freundlichkeit, und es war bestimmt nicht abfällig gemeint. Er bot sogar an, mich Guy de Vere zu »empfehlen«.
»Und ist sie gut, die Buchhandlung Véga?«
Sie hatte die Frage in leicht spöttischem Ton
Weitere Kostenlose Bücher