Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend
gestellt. Aber vielleicht war es auch nur ihr Pariser Akzent, der in mir diesen Eindruck weckte.
»Man findet dort eine Menge interessanter Bücher. Ich gehe gern mit Ihnen hin.«
Ich wollte wissen, was sie so las und was sie zu den Treffen bei Guy de Vere gelockt hatte. Das erste Buch, das de Vere ihr empfohlen hatte, war Der verlorene Horizont . Sie hatte es mit großer Aufmerksamkeit gelesen. Beim letzten Treffen war sie vor allen anderen eingetroffen, und de Vere hatte sie in sein Büro geführt. Er suchte auf den Regalbrettern seiner Bibliothek, die zwei ganze Wände füllte, nach einem anderen Buch, das er ihr leihen konnte. Nach einer Weile, als sei ihm plötzlich eine Idee gekommen, war er an seinen Schreibtisch getreten und hatte ein Buch genommen, das in einem Haufen zwischen Aktenstapeln und Briefen steckte. Er hatte zu ihr gesagt: »Das können Sie lesen. Ich bin neugierig, was Sie davon halten.« Sie war ganz verschüchtert gewesen. De Vere redete immer mit allen anderen, als wären sie genauso intelligent und gebildet wie er. Machte er das lange so? Irgendwann musste er doch merken, dass man nicht auf der Höhe war. Das Buch, das er ihr an jenem Abend gegeben hatte, trug den Titel: Louise du Néant . Nein, ich kannte es nicht. Es war die Lebensgeschichte von Louise du Néant, einer Nonne, mitsamt allen Briefen, die sie geschrieben hatte. Sie las nicht von vorne nach hinten, sie schlug das Buch irgendwo auf. Manche Seiten hatten sie stark beeindruckt. Noch mehr als Der verlorene Horizont . Bevor sie Guy de Vere kennenlernte, hatte sie Science-fiction-Romane gelesen wie Die lebenden Steine . Und Bücher über Astronomie. Was für ein Zufall … Auch ich interessierte mich für Astronomie.
An der Station Bir-Hakeim fragte ich mich, ob sie die Metro nehmen würde oder ob sie weitergehen wollte, bis auf die andere Seite der Seine. Über uns, in regelmäßigen Abständen, das Donnern der Züge. Wir haben die Brücke betreten.
»Ich wohne auch in der Nähe der Place de l’Étoile«, sagte ich. »Vielleicht gar nicht weit von Ihnen.«
Sie zögerte. Wahrscheinlich wollte sie mir etwas sagen, was ihr unangenehm war.
»Übrigens, ich bin verheiratet … Ich lebe bei meinem Mann in Neuilly …«
Man hätte meinen können, sie habe mir ein Verbrechen gestanden.
»Und sind Sie schon lange verheiratet?«
»Nein. Nicht sehr lange … seit April letzten Jahres …«
Wir schlenderten weiter. Wir waren in der Mitte der Brücke angekommen, bei der Treppe, die hinabführt zur Allée des Cygnes. Sie hat die Treppe betreten, und ich bin ihr gefolgt. Sie ging die Stufen mit festem Schritt hinunter, als wollte sie zu einer Verabredung. Und sie sprach immer schneller.
»Irgendwann suchte ich Arbeit … Ich bin auf eine Anzeige gestoßen … Es war eine Stelle als Aushilfssekretärin …«
Unten angelangt, folgten wir der Allée des Cygnes. Links und rechts von uns die Seine und die Lichter der Quais. Ich hatte das Gefühl, auf dem Promenadendeck eines Schiffes zu sein, gestrandet mitten in der Nacht.
»Im Büro gab ein Mann mir verschiedene Dinge zu tun … Er war freundlich zu mir … Er war älter … Nach einer Weile wollte er heiraten …«
Es klang, als versuche sie sich einem Jugendfreund gegenüber zu rechtfertigen, von dem sie lange nichts gehört hatte und dem sie zufällig auf der Straße begegnet war.
»Aber Sie selber, wollten Sie gern heiraten?«
Sie zuckte mit den Schultern, als hätte ich etwas ganz Albernes gesagt. Jeden Augenblick erwartete ich, von ihr zu hören: »Also bitte, du kennst mich doch gut genug …«
Wer weiß, vielleicht hatte ich sie ja gekannt, in einem früheren Leben.
»Er sagte immer, er wolle nur mein Bestes … Das stimmt auch … Er will mein Bestes … Er hält sich ein wenig für meinen Vater …«
Ich habe gedacht, sie erwarte einen Rat von mir. Bestimmt war sie es nicht gewohnt, sich jemandem anzuvertrauen.
»Und er begleitet Sie nie zu den Treffen?«
»Nein, er hat zuviel Arbeit.«
Sie war de Vere durch einen Jugendfreund ihres Mannes begegnet. Dieser hatte de Vere zu einem Abendessen nach Neuilly mitgebracht. Sie erzählte mir all diese Details mit gerunzelter Stirn, als habe sie Angst, irgendeines zu vergessen, und sei es das belangloseste.
Wir waren am Ende der Allee angekommen, vor der Freiheitsstatue. Rechter Hand eine Bank. Ich weiß nicht mehr, wer von uns beiden die Initiative ergriff und sich hinsetzte, oder vielleicht hatten wir auch dieselbe Idee im
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