Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend
selben Augenblick. Ich habe sie gefragt, ob sie nicht nach Hause müsse. Es war das dritte oder vierte Mal, dass sie an den Treffen bei Guy de Vere teilnahm und abends gegen elf an der Treppe der Station Cambronne stand. Und jedesmal fühlte sie bei der Aussicht, zurück nach Neuilly zu fahren, so etwas wie Mutlosigkeit. Sie war also für immer und ewig dazu verdammt, die Metro auf derselben Strecke zu nehmen. Umsteigen in Étoile. Aussteigen in Les Sablons …
Ich spürte ihre Schulter an meiner. Sie erzählte mir, nach dem Abendessen, bei dem sie Guy de Vere zum ersten Mal begegnet war, hatte er sie zu einem Vortrag eingeladen, den er in einem kleinen Saal im Odéon-Viertel hielt. An jenem Tag war es um den »dunklen Süden« und das »grüne Licht« gegangen. Nach dem Vortrag war sie aufs Geratewohl durch das Viertel gelaufen. Sie schwamm in dem grünen und kristallklaren Licht, von dem Guy de Vere sprach. Fünf Uhr abends. Es war viel Verkehr auf dem Boulevard, und am Carrefour de l’Odéon schubsten die Leute sie, weil sie gegen den Strom ging und nicht mit ihnen die Stufen der Metrostation hinunterwollte. Eine menschenleere Straße führte leicht ansteigend in Richtung Jardin du Luxembourg. Und da, auf halber Höhe, war sie in ein Café gegangen, ein Eckhaus: Le Condé. »Kennst du das Condé?« Sie duzte mich plötzlich. Nein, ich kannte das Condé nicht. Offen gestanden mochte ich dieses Universitätsviertel nicht besonders. Es erinnerte mich an meine Kindheit, die Schlafsäle eines Gymnasiums, von dem ich verwiesen worden war, und eine Uni-Mensa bei der Rue Dauphine, in die ich wohl oder übel gehen musste, mit einem gefälschten Studentenausweis. Ich war am Verhungern gewesen. Seither suchte sie häufig Zuflucht im Condé. Schnell hatte sie die meisten Stammgäste kennengelernt, insbesondere zwei Schriftsteller: einen gewissen Maurice Raphaël und Arthur Adamov. Hatte ich schon mal von ihnen gehört? Ja. Ich wusste, wer Adamov war. Ich hatte ihn sogar hin und wieder gesehen, in der Nähe von Saint-Julien-le-Pauvre. Ein ängstlicher Blick. Ich würde sogar sagen: ein erschrockener Blick. Er lief barfuß in Sandalen. Sie hatte kein einziges Buch von Adamov gelesen. Im Condé bat er sie manchmal, ihn bis zu seinem Hotel zu begleiten, denn er fürchtete sich, nachts allein zu gehen. Seit sie im Condé verkehrte, hatten die anderen ihr einen Spitznamen gegeben. Sie hieß Jacqueline, doch alle nannten sie Louki. Wenn ich wollte, würde sie mich Adamov und den anderen vorstellen. Und auch Jimmy Campbell, einem englischen Sänger. Und einem tunesischen Freund, Ali Cherif. Wir könnten uns tagsüber im Condé sehen. Sie ging auch abends hin, wenn ihr Mann fort war. Er kam oft sehr spät von der Arbeit nach Hause. Sie hat zu mir hochgeblickt und dann, nach kurzem Zögern, gesagt, es falle ihr jedesmal ein bisschen schwerer, heimzufahren zu ihrem Mann nach Neuilly. Sie wirkte besorgt und hat kein Wort mehr gesagt.
Zeit für die letzte Metro. Wir saßen allein im Wagen. Bevor sie in Étoile umstieg, gab sie mir ihre Telefonnummer.
Noch heute passiert es mir, dass ich abends eine Stimme höre, die meinen Vornamen ruft, auf der Straße. Eine heisere Stimme. Sie zieht die Silben ein wenig in die Länge, und ich erkenne sie sofort: Loukis Stimme. Ich drehe mich um, aber da ist niemand. Nicht nur abends, sondern auch an jenen flauen Sommernachmittagen, wenn man nicht mehr so recht weiß, welches Jahr man eigentlich schreibt. Alles wird wieder von vorne anfangen. Die gleichen Tage, die gleichen Nächte, die gleichen Orte, die gleichen Begegnungen. Die Ewige Wiederkehr.
Oft höre ich die Stimme in meinen Träumen. Alles ist so genau – bis ins kleinste Detail –, dass ich mich beim Erwachen frage, wie das möglich ist. Neulich in der Nacht habe ich geträumt, ich verließe Guy de Veres Haus, um dieselbe Zeit, zu der wir, Louki und ich, es beim ersten Mal verlassen hatten. Ich habe auf meine Uhr geschaut. Elf Uhr abends. An einem der Fenster im Erdgeschoss wuchs Efeu. Ich schritt durch das Gittertor und überquerte den Square Cambronne in Richtung oberirdischer Metro, als ich Loukis Stimme hörte. Sie rief mich: »Roland …« Zweimal. Ich hörte Spott in ihrer Stimme. Sie machte sich oft über meinen Vornamen lustig, in der Anfangszeit, ein Vorname, der gar nicht meiner war. Ich hatte ihn mir ausgesucht, um die Dinge zu vereinfachen, ein Nullachtfünfzehn-Vorname, der auch als Familienname durchgehen konnte. Er war
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