Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend
aufzusperren. Das Licht brannte, ein gelbes Licht, das von einer Deckenlampe herabfiel. Das Bett war zerwühlt, die Vorhänge zugezogen. Sie setzte sich auf den Bettrand und kramte in der Nachttischlade. Sie zog eine kleine Metallschachtel hervor. Sie sagte, ich solle dieses weiße Pulver einatmen, das sie »Schnee« nannte. Nach einer Weile durchströmte mich ein Gefühl der Frische und Leichtigkeit. Ich wusste genau, dass die Beklemmung und der Eindruck von Leere, die mich auf der Straße überfielen, niemals wiederkehren würden. Seit der Apotheker an der Place Blanche von Blutdruckschwankungen gesprochen hatte, glaubte ich, ich müsste Trotz bieten, ankämpfen gegen mich selbst, mich zu kontrollieren versuchen. Man kann nichts dafür, man ist eben hart erzogen worden. Lauf oder stirb. Wenn ich fiel, würden die anderen weitergehen auf dem Boulevard de Clichy. Ich durfte mir keine Illusionen machen. Doch von nun an würde sich alles ändern. Außerdem waren die Straßen und die Grenzen des Viertels mir plötzlich viel zu eng.
Eine Buchhandlung mit Schreibwaren am Boulevard de Clichy hatte bis ein Uhr morgens geöffnet. Mattei. Nur dieser Name über dem Schaufenster. Der Name des Besitzers? Ich habe mich nie getraut, den dunkelhaarigen Mann zu fragen, der einen Schnurrbart trug und eine Glencheckjacke und immerzu hinter seinem Schreibtisch saß und las. Jedesmal unterbrachen ihn die Kunden beim Lesen, wenn sie Postkarten kauften oder einen Block Briefpapier. Um die Zeit, da ich für gewöhnlich kam, gab es fast keine Kunden, außer manchmal ein paar Leute, die gerade aus dem Minuit Chansons von nebenan kamen. Meistens waren wir allein in der Buchhandlung, er und ich. Im Schaufenster lagen immer die gleichen Bücher, und ich wusste bald, dass es Science-fiction-Romane waren. Er hatte mir geraten, sie zu lesen. Ich weiß noch einige Titel: Ein Sandkorn am Himmel . Blinde Passagierin . Freibeuter der Leere . Nur einen einzigen davon habe ich behalten: Die lebenden Steine .
Rechts, in den Regalen am Fenster, standen die antiquarischen Bücher über Astronomie. Mir war eines aufgefallen, dessen oranger Einband halb zerrissen war: Voyage dans l’infini , Reise in die Unendlichkeit. Auch das habe ich noch. An dem Samstagabend, als ich es kaufen wollte, war ich die einzige Kundin in der Buchhandlung, und der Lärm vom Boulevard war kaum zu hören. Hinter dem Fenster sah man wohl ein paar Leuchtreklamen und sogar die weiß-blaue mit den »Schönsten Nackten der Welt«, doch sie wirkten so fern … Ich wagte nicht, diesen Mann zu stören, der las, sitzend und mit vornübergeneigtem Kopf. Ich habe etwa zehn Minuten in der Stille gewartet, bis er den Kopf nach mir wandte. Ich reichte ihm das Buch. Er lächelte: »Das ist sehr gut. Sehr gut … Reise in die Unendlichkeit …« Als ich das Buch bezahlen wollte, wehrte er ab: »Nein … nein … Ich schenke es Ihnen … Und wünsche Ihnen eine gute Reise …«
Ja, diese Buchhandlung ist nicht bloß eine Zuflucht gewesen, sondern auch eine Station in meinem Leben. Oft blieb ich, bis sie zumachte. Ein Stuhl stand vor den Regalen oder vielmehr ein großer Hocker. Ich setzte mich, um in den Büchern und Bildbänden zu blättern. Ich fragte mich, ob er meine Gegenwart überhaupt wahrnahm. Nach einigen Tagen, ohne seine Lektüre zu unterbrechen, sagte er einen Satz, immer denselben: »Nun, finden Sie Ihr Glück?« Später einmal hat mir jemand versichert, das einzige, woran man sich nicht erinnern könne, sei der Klang von Stimmen. Aber selbst heute noch, in meinen schlaflosen Nächten, höre ich oft die Stimme mit dem Pariser Akzent – jenem der ansteigenden Straßen –, die zu mir sagt: »Nun, finden Sie Ihr Glück?« Und dieser Satz hat nichts verloren von seiner Freundlichkeit und seinem Rätsel.
Wenn ich abends die Buchhandlung verließ, wunderte ich mich, wieder auf dem Boulevard de Clichy zu stehen. Ich hatte keine Lust, hinunterzugehen bis zum Canter. Meine Schritte zogen mich hinauf. Es machte mir jetzt Spaß, die Steigungen oder Treppen hochzulaufen. Ich zählte jede Stufe. Bei der Zahl 30 wusste ich, dass ich gerettet war. Viel später dann hat mir Guy de Vere Der verlorene Horizont zu lesen gegeben, die Geschichte von Leuten, die in Tibet die Berge emporklettern zum Kloster von Shangri-La, um die Geheimnisse des Lebens und der Weisheit zu erfahren. Mir genügte schon die Steigung der Rue Caulaincourt. Da oben, vor dem Château des Brouillards, atmete ich zum ersten
Weitere Kostenlose Bücher