Im Dunkel der Nacht (German Edition)
Vermutlich hatte es nichts mit ihm zu tun. Er musste abwarten und sehen, was als Nächstes passieren würde. Dann konnte er einen Plan schmieden.
Womöglich war auch schon alles vorbei. Die Nachricht von Max Sheldens Leiche verschwand bereits wieder von den Titelseiten der Zeitungen und aus den Nachrichten im Fernsehen. Vielleicht würde er die Namen Susan Tennant und Max Shelden nie mehr hören. Definitiv würden sie nie mehr in einem Satz zusammen erwähnt werden.
Er lächelte. Es war gut für ihn. Er wusste, wie man wartete und plante und im richtigen Moment zuschlug.
Nachdem er wieder das Gefühl hatte, die Kontrolle zu besitzen, warf er die Zeitung in den Abfalleimer und ging zurück an die Arbeit.
Gary glättete die Seiten der Zeitung, die er aus dem Müll gezogen hatte. Die Schlampe war also tot. Der Artikel nannte keine Details, doch es wurde erwähnt, dass sie gefesselt war.
Er sollte sich schlecht fühlen; das wusste er. Mit Sicherheit würde er das später auch. Es musste sich erst setzen. Aber noch nicht jetzt.
Sie hatte gegen das Seil angekämpft, das ihre Armgelenke und Füße umschlossen hatte. Sie hätte wissen müssen, dass das sinnlos war. Wie oft hatte sie den Jungen, die sie gefesselt hatte, gesagt, sie sollten sich nicht zur Wehr setzen? Sie hatte die Fesseln immer so fest gebunden, dass die Armgelenke und Knöchel der Kinder tagelang von Spuren gezeichnet gewesen waren. Man hatte immer anhand der geröteten Stellen gewusst, welches der Kinder bei der Schlampe gewesen war.
Gary rieb sich die Armgelenke, als wären die Spuren noch immer da. Für einen Moment schienen sie wieder so zu brennen, wie sie es vor Jahren getan hatten. Obwohl sie in Ordnung waren. Die Wunden waren vor langer, langer Zeit verheilt. Nicht einmal Narben waren zurückgeblieben.
Die Schlampe hatte Gary nur einige Male gefesselt – ihn in die Schranken gewiesen, wie sie es genannt hatte. So klang es viel kultivierter, doch man fühlte sich immer noch wie ein Schwein, das man für den Gang zur Schlachtbank gefesselt hatte. Gary war nicht der Typ, um sich zu wehren. Die Trotzigen waren es gewesen, die immer mit wunden Knöcheln und Armgelenken herumgelaufen waren.
Er erinnerte sich dennoch daran. Er erinnerte sich an den Terror. Man lag dort, gefesselt, unfähig, sich auch nur davor wegzuducken, was sie mit einem vorhatten – und sie hatten eine Menge vor.
Es hatte Kinder gegeben, die derart verängstigt gewesen waren, dass sie sich – genau wie die Schlampe – übergeben mussten. Sie hatte sie dann auf die Seite gedreht und ihnen die Gesichter mit einem Putzlumpen abgewischt. Es hatte sie immer zum Würgen gebracht.
Gary hatte nie verstanden, wie diese Männer zu all diesen Taten fähig gewesen waren. Es war keine Form der Selbstverteidigung. Selbst die größten Jungen wie Max hätten es nicht mit einer Gruppe von kräftigen Männern mit Seilen und Schlagstöcken aufnehmen können. Er nahm an, dass sie etwas hätten erreichen können, wenn sie alle an einem Strang gezogen hätten, aber so waren die Kinder nicht. Sie schlossen sich nicht zusammen. Die Männer spielten sie auf die eine oder andere Art gegeneinander aus. Heute verstand Gary das. Damals nicht. Er hatte nur gewusst, dass er niemandem vertrauen konnte. Dass die anderen Kinder ihn im Handumdrehen verraten konnten. Niemandem war zu trauen, außer Max.
Der starke, gut aussehende Max mit dem verschmitzten Lächeln. Max, der nett zu Gary war, der ihn beschützte und der mit ihm sprach. Es war einfach unglaublich, jemanden zu haben, mit dem man sprechen konnte. Jemand, der einen nicht ständig erniedrigte, einschüchterte oder aushorchte, um die Informationen später gegen einen verwenden zu können.
Max wollte den anderen Kindern die Augen öffnen. Er hatte versucht, sie davon abzuhalten, sich gegenseitig zu verraten, zu bekämpfen und zu diskriminieren. Er hatte gewollt, dass sie sich gegenseitig beschützen. Gary schauderte beim Gedanken an den Schlafsaal. Die Lichter gingen aus, und der Terror begann aufs Neue. Was auch immer ein Junge tagsüber erlebt hatte, wurde nachts an einem kleineren, wie Gary, ausgelassen.
Er schüttelte den Kopf. Man sollte meinen, dass jemand, der wusste, wie es sich anfühlte, ein Opfer zu sein, keine andere Person diesem Zustand aussetzen wollte. Wieso sollte man diese nagende Schande jemandem wünschen? Wieso sollte man jemandem den Schmerz, die Demütigungen oder den Terror wünschen?
Doch sie taten es. Sie taten es
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