Im Dunkel der Nacht (German Edition)
fortwährend.
Niemand wollte sich wie ein Opfer fühlen. Jeder wollte der Starke, der Große sein. Er wollte jedoch nie wie diese Männer sein. Sie machten ihn krank.
Gary war kein religiöser Mensch. Er hatte zu viele Stunden damit verbracht, als Kind um Rettung zu beten – zuerst zu Hause, dann auf der Sierra School –, um noch zu glauben, dass irgendetwas oder irgendjemand da draußen über ihn wachen würde. Zumindest nichts Wohlwollendes. Sollte es dort draußen eine höhere Macht geben, kümmerte sie sich nicht im Geringsten um Gary, und Gary kümmerte sich nicht im Geringsten um sie.
Auch an Schicksal glaubte er nicht. Scheiße passierte einfach. Das war alles. Man konnte Tage und Wochen damit verbringen, den Sinn dahinter zu suchen, doch das Ergebnis blieb dennoch ein Zufall.
Diesmal war es jedoch etwas anderes. Die Schlampe war an ihrem eigenen Erbrochenen erstrickt, gefesselt von Kopf bis Fuß. Etwas lenkte ihn. Aber was? Max war nur noch ein Haufen Knochen. Ein Haufen Knochen konnte keine Botschaften senden, oder?
Er würde darüber nachdenken müssen. Gary fuhr mit dem Daumen über Susan Tennants Uhr in seiner Tasche und ging nach Hause.
Okay. Sie hatte eine Liste mit Namen. Veronica hatte sich an die Vor-und Nachnamen von drei von Max’ Basketballfreunden erinnern können.
Sie klappte ihren Laptop auf. Google war ein beeindruckendes und erschreckendes Werkzeug. Konnte sich irgendjemand noch irgendwo wirklich verstecken? Es schien unmöglich. Sie alle hinterließen zu viele Spuren im Internet und auf Dokumenten.
Veronica fand zwei registrierte Telefonnummern. Sie könnte dort anrufen. Irgendwie kam ihr das aber falsch vor.
Hey, ich weiß nicht, ob Sie sich an meinen Bruder erinnern können, aber sie haben seine Leiche in einer Baugrube gefunden. Haben Sie ihn vielleicht zuvor gesehen?
Nein, so etwas musste man persönlich erledigen. Sie betätigte noch einige Suchfelder und fand die Adresse zu einer der beiden Telefonnummern. Es sah so aus, als wohnte er noch immer in der alten Umgebung, vermutlich im ehemaligen Haus seiner Eltern.
Veronica atmete tief durch. Hatte sie den Mut, das durchzuziehen? Dann dachte sie an die Polizisten, die im Haus ihres Vaters herumschnüffelten, und an ihre eigenen nagenden Zweifel. Konnte sie so leben? Ohne Gewissheit zu haben? Ohne die Wahrheit zu kennen? Die Wahlmöglichkeiten kamen ihr sehr begrenzt vor.
Ein paar Stunden später zitterte Veronica in ihrem Auto und beobachtete Jimmy Delacroix’ Haus. Sowie die Sonne untergegangen war, wurde es kühl und dunkel. Für gewöhnlich störte sie das nicht, doch alleine in ihrem kalten Auto zu sitzen, den Blick auf das hell erleuchtete Haus vor ihr gerichtet, ließ sie von Kopf bis Fuß frieren. Goldgelbes Licht strömte aus jedem Fenster. Sie konnte alle Personen im Inneren sehen, wie sie von Raum zu Raum gingen, Getränke und Schüsseln mit Essen von der Küche ins Wohnzimmer trugen und sich vergnügt auf die Schultern klopften.
Es schien eine ganze Menge von Max’ alten Freunden anwesend zu sein. Sie war ein wenig überrascht. Es waren immerhin zwanzig Jahre vergangen, und nicht jeder wollte für immer in Sacramento bleiben. Zumindest sie nicht.
Max hatte es geliebt, in dieses Haus zu kommen. Sie wusste noch, wie fröhlich er jedes Mal war, wenn er dort zu Abend essen, übernachten oder einfach nur einen Film schauen durfte. Jimmy Delacroix’ Eltern waren für ihn der Maßstab gewesen, wenn es um perfekte Eltern ging. Eines Abends hatte ihr Vater Max ins Gesicht geschlagen, weil er die Worte »Mr und Mrs Delacroix« zu oft gehört hatte. Max hatte sie daraufhin nie mehr erwähnt, doch Veronica bezweifelte, dass er seine Meinung über sie geändert hatte.
Das Ehepaar Delacroix lebte nun offenbar in einer einige Meilen entfernten Eigentumswohnung. Sie hatten ihr Haus an Jimmy »verkauft«, als er seine eigene Familie gründete. Jimmy hatte genug Platz, damit sich seine zwei kleinen Töchter austoben konnten, und sein Vater musste sich nicht mehr mit der Gartenarbeit plagen.
Vielleicht hatte Jimmy seine alten Teamkameraden eingeladen, um sich gemeinsam das Basketballspiel anzusehen. So war es auch früher immer gewesen. In diesem Haus hatten sich immer alle Kinder getroffen. Das Haus, in dem die Mutter Kekse buk und ein Auge auf alles hatte. Nicht das Haus, in dem die Mutter vielleicht ins Wohnzimmer taumeln und sich auf den Fußboden erbrechen würde, bevor das Spiel anfing.
Unsicher und peinlich berührt
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